Deutschland ist ein Kirchenstaat

von Uwe Lehnert

Man stelle sich irgendwo im Orient einen Staat vor, der seit Jahr­hun­der­ten von einer und der­sel­ben Reli­gion geprägt wird und dessen Städte und Dörfer optisch von vielen präch­ti­gen und him­mel­wei­sen­den Bauten beherrscht werden, die von dieser Reli­gion künden. Die Aus­bil­dung der Ver­kün­der dieser Glau­bens­lehre wird selbst­ver­ständ­lich von diesem Staat orga­ni­siert und finan­ziert, und die Gelder, die diese Ver­kün­der für sich und ihre Wir­kungs­stät­ten bean­spru­chen, lassen sie vom Staat einziehen.

Die ganz großen und mäch­ti­gen Ver­kün­der und ihre Hilfs­kräfte werden sogar direkt vom Staat aus dessen all­ge­mei­nen Steu­er­gel­dern bezahlt. Zwar gibt es in diesem Staat noch eine Viel­zahl ande­rer reli­giö­ser und welt­an­schau­li­cher Grup­pie­run­gen, sie werden aber als fak­tisch nicht exis­tie­rend betrach­tet. Das zeigt sich zum Bei­spiel in Rund­funk und Fern­se­hen, wo nur besagte Reli­gion Ver­tre­ter in die mei­nungs­steu­ern­den Gre­mien ent­sen­den darf und dort eigene Redak­tio­nen unter­hält, oder an den Uni­ver­si­tä­ten, wo bestimmte welt­an­schau­lich rele­vante Lehr­stühle ohne Geneh­mi­gung dieser Reli­gi­ons­ver­tre­ter nicht besetzt werden dürfen. Die obers­ten Ver­tre­ter dieser Reli­gion haben dar­über hinaus Ver­träge mit dem Staat geschlos­sen, die ihr eine Viel­zahl von erheb­li­chen finan­zi­el­len und sons­ti­gen Vor­tei­len ein­räu­men, die ande­ren Reli­gio­nen selbst­ver­ständ­lich nicht gewährt werden.

Inter­es­sant dabei ist, dass diese Ver­träge teil­weise aus einer Zeit stam­men, als ein beson­ders skru­pel­lo­ser Dik­ta­tor regierte, der heute von diesem Staat und den oben erwähn­ten Reli­gi­ons­ver­kün­dern sogar aufs Schärfste ver­dammt wird. Im öffent­li­chen Leben spielt besagte Reli­gion eine zen­trale Rolle, wenn auch mehr oder weni­ger ver­deckt, und in der Schule ist sie natür­lich ein beno­te­tes Unter­richts­fach. Bemer­kens­wer­ter­weise hat sich dieser Staat bei seiner Neu­grün­dung eine Art grund­le­gen­der Prin­zi­pien ver­ord­net, die unter ande­rem vor­se­hen, dass Staat und Reli­gion grund­sätz­lich zu tren­nen seien. Die Praxis aller­dings zeigt, dass spe­zi­ell diese Prin­zi­pien in den meis­ten Fällen Absichts­er­klä­run­gen geblie­ben sind, was aber von Poli­tik und Justiz mehr­heit­lich als ein nicht zu kri­ti­sie­ren­der Zustand ange­se­hen wird, beto­nen doch staat­li­che Ver­tre­ter und Geist­lich­keit bei bedeu­ten­den Anläs­sen gern die sie ver­bin­dende Wertegemeinschaft.

Der auf­merk­same Leser wird es schon bemerkt haben. Die Rede hier ist nicht von einem nah­öst­li­chen Got­tes­staat, es ist die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, die hier beschrie­ben wird.

Nach­fol­gend Bei­spiele für die zumin­dest teil­weise grund­ge­setz­wid­ri­gen Ver­flech­tun­gen zwi­schen Staat und zwei pri­vi­le­gier­ten Religionsgemeinschaften:

– Theo­lo­gi­sche Fakul­tä­ten als Pfar­rer aus­bil­dende Insti­tu­tio­nen an staat­li­chen Uni­ver­si­tä­ten, Finan­zie­rung durch den Staat;

– Mit­spra­che­recht des Paps­tes, also einer aus­län­di­schen Macht, bei der Errich­tung und Schlie­ßung von katho­lisch-theo­lo­gi­schen Lehr­stüh­len in Deutschland;

– Veto­recht der katho­li­schen Kirche bei der Beset­zung soge­nann­ter Kon­kor­dats-Lehr­stühle (betref­fend Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie, Geschichte, Päd­ago­gik u.a.);

– Reli­gion als ordent­li­ches und beno­te­tes Schul­fach in eigent­lich welt­an­schau­lich neu­tra­len Schu­len, wobei die Reli­gi­ons­leh­rer vom Staat finan­ziert werden;

– Ein­fluss­nahme auf schu­li­sche und beruf­li­che Lehr­in­halte durch christ­lich-reli­giöse Minis­ter (Bei­spiel Bun­des­wehr: Der ver­pflich­tende »Lebens­kund­li­che Unter­richt« erfolgte bis­lang für alle Mili­tär­an­ge­hö­ri­gen durch die Mili­tär­pfar­rer. Bei­spiel Poli­zei: Der ver­pflich­tende »Berufs­ethi­sche Unter­richt« erfolgt für alle Poli­zei­be­am­ten durch die Poli­zei­pfar­rer. Bei­spiel Sach­sen, 2006: Die staat­li­chen Bil­dungs­pläne für die Kitas soll­ten durch Papiere der evan­ge­li­schen Lan­des­kir­che in Form von »Glau­bens­er­fah­run­gen« ergänzt werden, konnte im letz­ten Moment ver­hin­dert werden);

– zuneh­mende Ver­qui­ckung von offi­zi­el­len Staats- und Trau­er­ak­ten mit kirch­li­chen Got­tes­diens­ten, ähn­li­che Ten­den­zen auch bei der Bun­des­wehr bei Trau­er­fei­ern; immer öfter »Ein­seg­nun­gen« von öffent­li­chen Gebäuden;

– Gehäl­ter und Pen­sio­nen von Bischö­fen, Kar­di­nä­len, Dom­her­ren u.a. samt Neben­kos­ten aus all­ge­mei­nen Steuermitteln;

– staat­li­che Zuschüsse zu den Kir­chen­ta­gen in teil­weise zwei­stel­li­ger Mil­lio­nen­höhe aus all­ge­mei­nen Steu­er­mit­teln (Bei­spiel: Zwei­ter Öku­me­ni­scher Kir­chen­tag Mün­chen 2010: Gesamt­kos­ten 26 Mio. Euro, davon über­nah­men die Kir­chen je 2,5 Mio., den Rest fast voll­stän­dig der Bund, Land Bayern und Stadt München);

– Kir­chen­steu­er­ein­zug durch die staat­li­chen Finanzämter;

– jah­re­lang erfolg­ter, zwangs­wei­ser und nicht rück­erstat­tungs­fä­hi­ger Kir­chen­steu­er­ab­zug beim Arbeits­lo­sen­geld, auch wenn keine(!) Kir­chen­mit­glied­schaft vorlag (inzwi­schen aufgehoben);

– kirch­li­ches Arbeits­recht über staat­li­chem Arbeits­recht ste­hend, mit weni­ger Rech­ten für den Arbeit­neh­mer in kon­fes­sio­nel­len Kin­der­ta­ges­stät­ten, Schu­len, Kran­ken­häu­sern (z. B. kein Streik­recht, Zwangs­mit­glied­schaft in der Kirche, frist­lose Kün­di­gung bei Glau­bens­ver­stö­ßen – trotz fast voll­stän­di­ger staat­li­cher Finanzierung);

– Allein­ver­tre­tungs­an­spruch der Kir­chen in welt­an­schau­li­chen Fragen in den Rund­funk- und Fernsehräten;

– evan­ge­li­sche und katho­li­sche Rund­funk­be­auf­tragte in den öffent­li­chen und pri­va­ten Rund­funk- und Fern­seh­an­stal­ten mit eige­nen Redak­tio­nen, nicht­re­li­giöse Welt­an­schau­un­gen sind dage­gen nicht zugelassen;

– feste Sen­de­plätze für die Kir­chen in Rund­funk und Fernsehen;

– Beset­zung von Ethik­rä­ten ganz über­wie­gend mit Theo­lo­gen und Ver­tre­tern der christ­li­chen Reli­gion – trotz inzwi­schen 40 % nicht­christ­li­cher Bürger;

– nicht künd­bare Ver­träge (Kon­kor­date) zwi­schen Staat und Kirche, die der Kirche dau­er­haft Ein­fluss und vor allem Finanz­mit­tel sichern (siehe z.B. Frerk, 2010 oder Czer­mak, 2008);

– mas­sive finan­zi­elle Unter­stüt­zung (in der Grö­ßen­ord­nung von 90 bis 100%) kon­fes­sio­nel­ler, mit kirch­li­chen Son­der­rech­ten aus­ge­stat­te­ter Kin­der­ta­ges­stät­ten, Schu­len und Kran­ken­häu­ser durch den Staat und die Sozi­al­kas­sen; mit staat­li­chen Gel­dern errich­tete Bauten gehen in den Besitz der Kir­chen über;

– Erheb­li­che Begüns­ti­gung der Kir­chen als Kör­per­schaf­ten ö.R. durch Steuer- und Gebüh­ren­recht: Keine Steu­ern für Tätig­kei­ten, die i.w.S. kirch­li­chen, gemein­nüt­zi­gen oder mild­tä­ti­gen Zwe­cken dienen (z.B. keine Kör­per­schafts­steuer, Erb­schafts- und Schen­kungs­steuer, Grund­steuer; Befrei­ung von Zins­ab­schlag- und Kapi­tal­ertrags­steuer; keine Umsatz­steu­er­pflicht beim Betrieb kirch­li­cher Kran­ken­häu­ser oder Pfle­ge­heime, im Gegen­satz zu kon­kur­rie­ren­den kom­mer­zi­el­len Anbietern);

– Weit­ge­hend Befrei­ung von Gerichts- und Nota­ri­ats­kos­ten in Zivil­sa­chen kla­gen­der und beklag­ter Kir­chen­ver­tre­ter; gilt auch für die Groß­un­ter­neh­men Cari­tas und Diakonie;

– steu­er­li­che Sub­ven­tio­nie­rung der Kir­chen und ihrer Ein­rich­tun­gen von ca. 20 Mil­li­ar­den Euro jähr­lich, auf­ge­bracht durch alle Steu­er­zah­ler (z.B. Ein­nah­me­ver­zicht durch Kir­chen­steuer als Son­der­aus­gabe: 3 Mrd., Steu­er­be­frei­un­gen: 2,3 Mrd., Kin­der­ta­ges­ein­rich­tun­gen: 3,9 Mrd., Kon­fes­si­ons­schu­len: 2,3 Mrd. – Daten aus 2009, nach Cars­ten Frerk 2010);

– selbst­herr­li­ches Umwan­deln des im Grund­ge­setz (Arti­kel 140) fest­ge­schrie­be­nen Selbst­ver­wal­tungs­rechts der Kir­chen in ein umfas­sen­des, kom­pe­tenz­er­wei­tern­des Selbst­be­stim­mungs­recht (später bestä­tigt durch das kir­chen­nahe Bundesverfassungsgericht);

– stän­dige Ver­su­che des Gesetz­ge­bers, Gesetze, obwohl letzt­lich reli­giös bzw. mit dem christ­li­chen Welt­bild begrün­det, auch für Nicht- und Anders­gläu­bige ver­bind­lich zu machen (Bei­spiele: Verbot der Embryo­nen- und Stamm­zell­for­schung, Verbot der Frei­gabe der Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik, Restrik­tio­nen bei Pati­en­ten­ver­fü­gun­gen oder Sterbehilfe).

(Ein aus­führ­li­cher Bericht mit prä­zi­sier­ten Anga­ben und Quel­len wird im Juni 2015 auf diesen Seiten unter dem Titel
»Die (un)heimliche Macht der Kir­chen — Über den unver­än­dert hohen Ein­fluss der Kir­chen in Deutsch­land« erscheinen.)