Was glaubt jemand, der nicht glaubt?

Was glaubt jemand, der nicht glaubt?

von Uwe Leh­nert (erschie­nen im Huma­nis­ti­schen Pres­se­dienst am 18.10.2017 unter  https://hpd.de/artikel/glaubt-jemand-nicht-glaubt-14893 )

Was Chris­ten oder Mus­lime glau­ben, das ist in groben Zügen so ziem­lich jedem geläu­fig. Dage­gen ist in der Öffent­lich­keit so gut wie nichts dar­über bekannt, was kon­fes­si­ons­freie Men­schen denken und für “glaub­wür­dig” halten. Das ist eigent­lich erstaun­lich, bilden sie doch in Deutsch­land mehr als ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung, in Berlin zum Bei­spiel stel­len sie die über­große Mehr­heit dar. 

Eine reprä­sen­ta­tive Befra­gung des Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tut Emnid im Früh­jahr 2016 ergab für Berlin, dass sich 61 Pro­zent der Ber­li­ner als kon­fes­si­ons­frei, 21 Pro­zent als evan­ge­lisch und 9 Pro­zent als Mit­glied der katho­li­schen Kirche bezeich­ne­ten. In den rest­li­chen 9 Pro­zent sind Mus­lime, Juden und ca. 50 wei­tere Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten enthalten.

Kon­fes­si­ons­freie ver­tre­ten mehr­heit­lich eine Welt­an­schau­ung, die sich bewusst von Reli­gion und einem über Allem ste­hen­den Gott abgrenzt. Eine Min­der­heit unter ihnen ist zwar aus der Kirche aus­ge­tre­ten, betrach­tet sich aber oft noch in irgend­ei­ner Weise als religiös.

Nichtreligiöse Menschen gibt es offiziell faktisch nicht

Rund­funk und Fern­se­hen halten sich vor­nehm zurück, wenn es um die Dar­stel­lung des Den­kens und Han­delns nicht­re­li­giö­ser Men­schen in Deutsch­land geht. Dabei ist in allen Staats­ver­trä­gen, die zwi­schen jedem Bun­des­land und den jewei­li­gen Rund­funk- und Fern­seh­an­stal­ten geschlos­sen wurden, aus­drück­lich fest­ge­schrie­ben, dass diese über alle rele­van­ten gesell­schaft­li­chen Grup­pie­run­gen und über alle rele­van­ten gesell­schaft­li­chen Ansich­ten und Mei­nun­gen ange­mes­sen zu berich­ten hätten. Aber ledig­lich die “staats­tra­gen­den” Reli­gio­nen haben Ver­tre­ter in den Medi­en­rä­ten. Und von denen ver­fü­gen fast nur die christ­li­chen Kir­chen über eigene Redak­tio­nen und feste Sen­de­zei­ten. Diese besit­zen somit trotz aller behaup­te­ten Tren­nung von Staat und Reli­gion ein staat­lich gewähr­tes Privileg.

Bei den Tages- und Wochen­zei­tun­gen sieht es ähn­lich aus. Welt­an­schau­li­che Fragen, die um die Themen welt­li­cher Huma­nis­mus, Reli­gi­ons­kri­tik, gar Athe­is­mus krei­sen, schei­nen gera­dezu tabu zu sein. Ange­sichts der Viel­zahl von reli­gi­ons- und kir­chen­kri­ti­schen Büchern – siehe bei den Inter­net-Buch­ver­sen­dern, nicht in den Buch­hand­lun­gen! – ist es auf­fäl­lig, dass solche Lite­ra­tur prak­tisch nie in den Kultur- und Lite­ra­tur­tei­len der Druck­me­dien erwähnt wird. Aus­nah­men bilden allen­falls mal ein Buch eines hoch­re­nom­mierte Autors wie Richard Daw­kins (“Der Got­tes­wahn”) oder ein Inter­view mit dem säku­la­ren Huma­nis­ten Michael Schmidt-Salomon.

Reli­giöse und die Kir­chen betref­fende Fragen werden täg­lich, aus­führ­lich und wie selbst­ver­ständ­lich in Funk und Presse the­ma­ti­siert. Kon­fes­si­ons­freie Men­schen erhe­ben den Anspruch, mit eben sol­cher Selbst­ver­ständ­lich­keit welt­an­schau­li­che Alter­na­ti­ven zur Reli­gion und Themen, die sich kri­tisch bis ableh­nend mit Reli­gion befas­sen, öffent­lich zu dis­ku­tie­ren. Immer­hin betref­fen solche Themen mehr als ein Drit­tel der deut­schen Bürger, in den Groß­städ­ten mit ihren viel­fäl­ti­gen Bil­dungs­an­ge­bo­ten sogar die Mehr­heit. Haben nicht Rund­funk und Fern­se­hen, aber natür­lich auch die Druck­me­dien, gera­dezu den – selbst auf­er­leg­ten – Auf­trag, über alles, was von gesell­schaft­li­cher Bedeu­tung ist, zu berich­ten? Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat in seinem Urteil vom 25. März 2014 zum ZDF-Staats­ver­trag aus­ge­führt: “Neben großen, das öffent­li­che Leben bestim­men­den Ver­bän­den müssen unter­ein­an­der wech­selnd auch klei­nere Grup­pie­run­gen, die nicht ohne wei­te­res Medi­en­zu­gang haben, und auch nicht kohä­rent orga­ni­sierte Per­spek­ti­ven (in den Auf­sichts­gre­mien; U.L.) abge­bil­det werden.” Die Aus­füh­run­gen bezo­gen sich zwar auf die Aus­ge­stal­tung des ZDF-Staats­ver­trags, bilden aber erkenn­bar eine Aus­sage von all­ge­mei­ne­rer Bedeutung.

Als ent­schul­di­gen­des Argu­ment wird regel­mä­ßig vor­ge­tra­gen, dass die Kon­fes­si­ons­freien nicht reprä­sen­ta­tiv orga­ni­siert seien, keinen Ansprech­part­ner hätten und von daher als quasi nicht vor­han­den erschei­nen. Abge­se­hen davon, dass Unor­ga­ni­siert­heit kein Argu­ment sein kann für die Miss­ach­tung des Rechts auf mediale Berück­sich­ti­gung rele­van­ter Bevöl­ke­rungs­grup­pen. In dieser Pau­scha­li­tät trifft das Argu­ment der nicht exis­tie­ren­den Ansprech­part­ner ohne­hin nicht zu. KORSO ist ein Ver­bund von acht bun­des­wei­ten und eini­gen wei­te­ren regio­na­len säku­la­ren Orga­ni­sa­tio­nen, in denen kon­fes­si­ons­freie Men­schen sich zusam­men­ge­schlos­sen haben. Eine dieser bun­des­weit agie­ren­den Orga­ni­sa­tio­nen, in der sich nicht­re­li­giöse Men­schen zusam­men­ge­fun­den haben, ist zum Bei­spiel der Huma­nis­ti­sche Ver­band Deutsch­land (HVD). Der HVD ist in Berlin Träger von über 60 sozia­len, kul­tu­rel­len und päd­ago­gi­schen Pro­jek­ten und Ein­rich­tun­gen. Er hat in Berlin etwa 12000 Mit­glie­der und rund 1.000 haupt­amt­li­che und über 750 ehren­amt­li­che Mit­ar­bei­ter. Er unter­stützt – ver­gleich­bar den Kir­chen – Men­schen in allen Lebens­pha­sen: von der Schwan­ger­schaft, fei­er­li­chen Namens­ge­bung, über die Kin­der­er­zie­hung, Jugend­weihe, Jugend- und Bil­dungs­ar­beit, bis hin zur Sozi­al­ar­beit, Alten­pflege und Ster­be­be­glei­tung. Der­zeit erhal­ten ca. 60 000 Schü­ler und Schü­le­rin­nen durch Lehrer des Huma­nis­ti­schen Ver­ban­des huma­nis­ti­schen Lebens­kun­de­un­ter­richt, ein fakul­ta­ti­ver Welt­an­schau­ungs­un­ter­richt statt der bisher übli­chen reli­giö­sen Unterweisung.

Humanistische Vorstellungen sind überraschend weit verbreitet

Über solche umfang­rei­chen Akti­vi­tä­ten eines betont nicht­re­li­giö­sen Ver­bands wenigs­tens gele­gent­lich zu berich­ten, sollte für die Rund­funk­hö­rer, Fern­seh­zu­schauer oder Zei­tungs­le­ser nicht inter­es­sant sein? Wo doch selbst neben­säch­li­ches kirch­li­ches Gesche­hen oder nur mäßig inter­es­sante Äuße­run­gen ihrer Reprä­sen­tan­ten stets Ein­gang in unsere Medien finden. Bei rund 3 Mill. Ber­li­ner Bür­gern über 14 Jahre wären das bei etwa 60 Pro­zent Kon­fes­si­ons­freien etwa 1,8 Mill. poten­ti­elle Inter­es­sen­ten. Das ein­zige Pres­se­or­gan Deutsch­lands, das regel­mä­ßig und umfas­send Nach­rich­ten und Kom­men­tare zu aktu­el­len Ereig­nis­sen bringt, die die deut­sche und inter­na­tio­nale huma­nis­ti­sche Szene betref­fen, ist der Huma­nis­ti­sche Pres­se­dienst (hpd.de). Mit mehr als 5.000 Klicks pro Tag und mehr als 2 Mil­lio­nen Sei­ten­auf­ru­fen im Jahr ist dieses Inter­net­por­tal das wich­tigste Online-Medium zu frei­geis­tig-huma­nis­ti­schen Themen im deutsch­spra­chi­gen Raum.

Themen wie säku­la­rer Huma­nis­mus, Leben ohne Gott, der pro­ble­ma­ti­sche poli­ti­sche Ein­fluss der Kir­chen, Tren­nung von Kirche und Staat, Ster­be­hilfe aus huma­nis­ti­scher Sicht u.v.a.m. werden in der deut­schen Medi­en­land­schaft weit­ge­hend gemieden.”

Leider zeigt sich auch hier, dass Presse, Rund­funk und Fern­se­hen Nach­rich­ten aus der säku­la­ren Welt dort offen­bar auch nur sehr zurück­hal­tend, wenn über­haupt abru­fen. Themen wie säku­la­rer Huma­nis­mus, Leben ohne Gott, der pro­ble­ma­ti­sche poli­ti­sche Ein­fluss der Kir­chen, Tren­nung von Kirche und Staat, Ster­be­hilfe aus huma­nis­ti­scher Sicht u.v.a.m. werden in der deut­schen Medi­en­land­schaft weit­ge­hend gemie­den. Die Behand­lung sol­cher Themen würde deut­lich machen, dass es eine leben­dige und aktive huma­nis­ti­sche Szene in Deutsch­land gibt. Das ist poli­tisch augen­schein­lich uner­wünscht. Daher ist es ver­ständ­lich, dass in oben erwähn­ter Emnid-Befra­gung 54 Pro­zent der inter­view­ten Ber­li­ner sich durch die Medien und die Poli­tik nicht aus­rei­chend über die große Gruppe der Kon­fes­si­ons­freien infor­miert fühlen.

Seit 2016 haben in Berlin Schü­ler mit huma­nis­ti­scher Lebens­auf­fas­sung am 21. Juni, dem Welthu­ma­nis­ten­tag, Anspruch auf einen schul­freien Tag. Bischof Markus Dröge war pikiert und emp­fand diese Gleich­be­hand­lung von Reli­gi­ons- und Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten, die übri­gens im Grund­ge­setz fest­ge­schrie­ben ist, als “Ent­wer­tung des christ­li­chen Glau­bens”. Wel­cher anma­ßende Anspruch sei­tens einer reli­giö­sen Lehre, die in dieser Stadt nur schein­bar noch 30 Pro­zent ihrer Bürger ver­tritt, steckt in dieser Aussage!

Dass die Mit­glied­schaft in der Kirche in sehr vielen Fällen nur noch ein for­male ist, geht eben­falls aus obiger Umfrage hervor. Diese reprä­sen­ta­tive Studie erbrachte hin­sicht­lich der Ein­stel­lung auch der kirch­lich orga­ni­sier­ten Bürger höchst bemer­kens­werte Ein­sich­ten und ließ erken­nen, wie wenig lebens­be­stim­mend christ­li­che Auf­fas­sun­gen selbst bei Kir­chen­mit­glie­dern noch sind. Eine der zu beant­wor­ten­den Aus­sa­gen lau­tete: “Ich führe ein selbst­be­stimm­tes Leben, das auf ethi­schen und mora­li­schen Grund­über­zeu­gun­gen beruht und frei ist von Reli­gion und Glau­ben an einen Gott.” Über­wäl­ti­gende 74 Pro­zent der befrag­ten Ber­li­ner stimm­ten mit einer sol­chen huma­nis­ti­schen Lebens­auf­fas­sung überein.

85 Pro­zent der Kon­fes­si­ons­freien stimm­ten dieser Aus­sage zu, aber auch 57 Pro­zent der Katho­li­ken und 64 Pro­zent der Pro­tes­tan­ten äußer­ten, ein Leben “frei von Reli­gion und Glau­ben an einen Gott” zu führen! Und sicher wird für viele gläu­bige Leser ein wei­te­res Ergeb­nis der Umfrage als irri­tie­rend emp­fun­den, dass näm­lich mit stei­gen­dem Bil­dungs­grad die Zustim­mung zu huma­nis­tisch-säku­la­ren Lebens­auf­fas­sun­gen wächst, das heißt, zu reli­giö­sen Ansich­ten abnimmt. Ein Phä­no­men, das von allen großen Städ­ten in Deutsch­land bekannt ist.

Ein säkularer Humanist “glaubt” nicht

Was heu­tige Huma­nis­ten denken, von wel­chen Wert­vor­stel­lun­gen sie aus­ge­hen, ist beson­ders unter Gläu­bi­gen weit­hin unbe­kannt. Allen­falls asso­zi­iert man die Ableh­nung von Reli­gion und die Ver­nei­nung der Exis­tenz eines Gottes. Ver­bun­den sind diese Auf­fas­sun­gen oft mit der Unter­stel­lung, dass reli­gi­ons­lose, erst recht athe­is­tisch ein­ge­stellte Men­schen keine Moral kennen würden, da sie sich keiner gött­li­chen Macht gegen­über ver­pflich­tet fühlen. Offen­bar gehen diese gläu­bi­gen Men­schen davon aus, dass mora­li­sche Prin­zi­pien, die unser Tun und Unter­las­sen regeln, nur in Gott ver­an­kert sein könn­ten. Tat­säch­lich kann die noch junge Sozio­bio­lo­gie zeigen, dass auch Moral sich evo­lu­tio­när ent­wi­ckelt hat. Denn wie anders ist es zum Bei­spiel zu erklä­ren, dass die Kern­sätze der Zehn Gebote welt­weit ver­brei­tet sind, unab­hän­gig von jeder Reli­gion und Got­tes­vor­stel­lung. Aber auch Men­schen können Normen des Ver­hal­tens ver­ein­ba­ren und auf deren Ein­hal­tung drin­gen, wie etwa die “Ame­ri­ka­ni­sche Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung” oder die “All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte” zeigen.

Was heu­tige Huma­nis­ten denken, von wel­chen Wert­vor­stel­lun­gen sie aus­ge­hen, ist beson­ders unter Gläu­bi­gen weit­hin unbekannt.”

Der Mensch kann sich also seine ethi­schen Normen und Regeln selbst geben. Die Miss­bil­li­gung von kirch­li­cher Seite an der angeb­li­chen Selbst­herr­lich­keit des Men­schen lautet, dass “eine solche Ethik sich nur noch an den tat­säch­li­chen oder mut­maß­li­chen Inter­es­sen ori­en­tiere, die ein Mensch habe”. Von einem Huma­nis­ten würde das nicht als Kritik auf­ge­fasst werden. Eher als Bestä­ti­gung des Grund­sat­zes, dass der Mensch – immer mit Blick auf die Ver­ant­wor­tung auch für den ande­ren – das Maß der Dinge sei und nicht eine in sog. hei­li­gen Schrif­ten beschrie­bene gött­li­che Wesenheit.

Der sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten her­aus­ge­bil­dete sog. Neue Huma­nis­mus ver­steht sich somit als eine welt­li­che Alter­na­tive zur Reli­gion, als eine Welt­sicht, die ohne Götter, Pro­phe­ten und Pries­ter aus­kommt, kein angeb­lich von einem Gott dik­tier­tes hei­li­ges Buch und keine Dogmen kennt, das Wissen über die Welt und den Men­schen vor allem aus den Natur­wis­sen­schaf­ten gewinnt, sich von über­kom­me­nen, meta­phy­si­schen Moral­vor­stel­lun­gen gelöst hat, statt­des­sen ethi­sche Normen an den fun­da­men­ta­len Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Men­schen ori­en­tiert. Es ist des­halb der oft geäu­ßer­ten Mei­nung zu wider­spre­chen, dass der welt­li­che Huma­nis­mus bezie­hungs­weise der Athe­is­mus auch eine Form des Glau­bens sei, mit­un­ter wird sogar von einem »reli­giö­sen Athe­is­mus« gespro­chen. Wenn zum Wesen einer Reli­gion die Annahme einer gött­li­chen bezie­hungs­weise tran­szen­den­ten Macht gehört, die in irgend­ei­ner Weise auf mein Leben Ein­fluss nimmt, dann ist es unsin­nig und unlo­gisch, auch dem welt­li­chen Huma­nis­mus oder dem Athe­is­mus reli­giöse Züge zuzu­spre­chen oder diesen als einen “Glau­ben” zu bezeich­nen. Der welt­li­che Huma­nis­mus ist ein strikt dies­seits­ori­en­tier­tes Lebens­kon­zept ohne jeden tran­szen­den­ten Bezug.

Die drei Säulen einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung

Dieser “Neue Huma­nis­mus” besteht ver­ein­facht gesagt aus drei Kom­po­nen­ten: Einem natu­ra­lis­ti­schen Welt­bild, einem säku­la­ren Wer­te­sys­tem und einer strik­ten Dies­seits­ori­en­tie­rung. Für mich per­sön­lich würde ich mein huma­nis­ti­sches Bekennt­nis wie folgt beschrei­ben, und ich denke, dass sich sehr viele meiner huma­nis­ti­schen Freunde dieser Sicht anschlie­ßen können.

Ers­tens: Ich betrachte das, was die heu­ti­gen Natur­wis­sen­schaf­ten als der­zeit gesi­cherte Erkennt­nis anse­hen, für mich zunächst einmal als maß­ge­bend und als Basis für alle wei­te­ren Über­le­gun­gen. Vor allem ist es die ratio­nale, logi­sche und sys­te­ma­ti­sche Denk­weise der heu­ti­gen Natur­wis­sen­schaf­ten und ihre empi­ri­sche Ver­an­ke­rung, die ich mir zum Vor­bild genom­men habe. Ich bin höchst skep­tisch allem gegen­über, was für sich Gül­tig­keit, ja Wahr­heit bean­sprucht, ohne dafür wenigs­tens plau­si­ble Gründe ange­ben zu können. Den­noch ist nicht zu bestrei­ten, dass Wis­sen­schaft heute noch vieles nicht erklä­ren kann, und dass unser Wissen begrenzt und viel­leicht nie­mals voll­stän­dig sein wird.

Zwei­tens: Ein säku­la­res Wer­te­sys­tem kennt statt einer gött­lich gestif­te­ten Moral eine ver­nunft­ba­sierte Ethik. Ein sol­ches säku­la­res Wer­te­sys­tem ori­en­tiert seine Normen und Regeln an den fun­da­men­ta­len Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Men­schen. Der Mensch ist also das Maß der Dinge, nicht eine behaup­tete, nicht erkenn­bare Instanz über uns. Dieses säku­lare Wer­te­sys­tem drückt sich aus in huma­nis­ti­schen Grund­sät­zen und all­ge­mein aner­kann­ten Men­schen­rech­ten wie Selbst­be­stim­mung, Gleich­heit und Frei­heit der Men­schen, Soli­da­ri­tät und soziale Gerech­tig­keit, Tole­ranz gegen­über ande­ren Weltanschauungen.

Im Zen­trum meines huma­nis­ti­schen Kon­zepts steht jeden­falls die Aus­sage, die in den Ohren vieler Men­schen wie eine Pro­vo­ka­tion klin­gen mag, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Dabei bin ich mir sehr wohl bewusst, dass der bloße Aus­tausch von Instan­zen noch keine Garan­tie für eine bes­sere Lösung dar­stellt. Aber nicht ein­zelne Men­schen sollen hier über grund­le­gende Normen und pro­ble­ma­ti­sche ethi­sche Fragen ent­schei­den, son­dern mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­rende Men­schen, die auf­grund von Sach­ver­stand, Lebens­er­fah­rung und Fol­gen­ab­schät­zung wägen und urtei­len. Inso­fern hätten Ethik-Kom­mis­sio­nen ihre Berech­ti­gung, wenn sie denn tat­säch­lich ein Spie­gel­bild der mora­lisch-ethi­schen bzw. welt­an­schau­li­chen Auf­fas­sun­gen der Bürger und nicht ein­sei­tig kirch­lich-reli­giös domi­niert wären.

Da Men­schen natur­ge­mäß unter­schied­li­che Bedürf­nisse und Inter­es­sen haben, sollte das Prin­zip des fairen Inter­es­sen­aus­gleichs gelten. Unter­schied­li­che Inter­es­sen müssen nach dem Fair­ness­prin­zip aus­ge­han­delt werden. Das bedeu­tet, dass man sich um des gesell­schaft­li­chen Frie­dens willen immer zu fragen hat: Was ist glei­cher­ma­ßen gut und akzep­ta­bel für alle betei­lig­ten Seiten.

Und drit­tens: Meine strikte Dies­seits­ori­en­tie­rung basiert auf der Ein­sicht, dass ich – höchst­wahr­schein­lich – nur dieses eine Leben habe. Folg­lich sollte ich ver­su­chen, das Best­mög­li­che aus meinem Leben zu machen. Dieses Stre­ben nach Erfül­lung meines Lebens muss aber immer auch den Mit­men­schen im Blick haben, der ebenso glück­lich werden will. Des­halb gelingt ein erfüll­tes Leben am besten dadurch, dass man sich gesell­schaft­lich enga­giert, sei es im poli­ti­schen, im huma­ni­tä­ren, viel­leicht im künst­le­ri­schen Bereich. Und schließ­lich: Wer sich bemüht hat und wem es gelun­gen ist, auf ein erfüll­tes, glück­li­ches Leben zurück­bli­cken zu können, dem wird es leich­ter fallen, von dieser Lebens­bühne wieder abzutreten.

Aber es gibt noch einen Punkt, den ich hier anspre­chen will. Einer natu­ra­lis­ti­schen Welt­an­schau­ung wird gern “emo­tio­nale Armut” vor­ge­wor­fen, eine “redu­zierte Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung” oder “Blind­heit gegen­über den see­li­schen Bedürf­nis­sen eines Men­schen, der sich in exis­ten­ti­el­ler Not befin­det”. Diese Vor­würfe sind nicht ganz unbe­rech­tigt. Denn wer die Reli­gio­nen ablehnt und auch die Idee eines Jen­seits ver­wirft, meidet daher meist Gedan­ken über Themen, die über uns hin­aus­wei­sen, Fragen, die gewis­ser­ma­ßen die letz­ten Dinge betref­fen. Denn Nicht­gläu­bige haben die Sorge, wie gehabt, wieder in irra­tio­na­les oder eso­te­ri­sches Fahr­was­ser zu geraten.

Den­noch beschäf­ti­gen auch Nicht­gläu­bige Fragen, die jen­seits der ratio­na­len Bewäl­ti­gung des All­tags liegen. Auch Nicht­gläu­bige denken über den Urgrund allen Seins nach, über die Unbe­greif­lich­keit der Rea­li­tät, und kennen Gefühle des Eins­sein mit der Natur. Solche Themen spre­chen eine – wie man sagen könnte – spi­ri­tu­elle Dimen­sion an. Das Thema Spi­ri­tua­li­tät wird jeden­falls von vielen Nicht­gläu­bi­gen inzwi­schen, wenn auch mit großer Zurück­hal­tung, als eine das Dasein berei­chernde Dimen­sion wahr­ge­nom­men. Bei dem Gedan­ken an die End­lich­keit der eige­nen Exis­tenz aller­dings bietet für einen Nicht­gläu­bi­gen die Ver­hei­ßung auf ein Wei­ter­le­ben im Jen­seits keinen Trost. Zu offen­kun­dig ist für ihn dieses reli­giöse Ver­spre­chen Wunsch­den­ken, eine bloße Illusion.

Selbstbestimmung ist ein grundlegendes Menschenrecht

Das Selbst­be­stim­mungs­recht ist ein Men­schen­recht und hat damit Ver­fas­sungs­rang. Art. 2, Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 1, Abs. 1 GG garan­tiert jedem Men­schen das Recht auf die “freie Ent­fal­tung seiner Per­sön­lich­keit, soweit er nicht die Rechte ande­rer ver­letzt und nicht gegen die ver­fas­sungs­mä­ßige Ord­nung oder das Sit­ten­ge­setz ver­stößt”. Die sog. Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik und die Ster­be­hilfe sind zwei Themen, an denen bei­spiel­haft der Unter­schied zwi­schen einer christ­lich-reli­giö­sen und säku­lar-huma­nis­ti­schen Auf­fas­sung im Zusam­men­hang mit dem Recht auf Selbst­be­stim­mung deut­lich gemacht werden kann.

Unter der Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik (kurz: PID) ver­steht man die Unter­su­chung von Embryo­nen, die im Reagenz­glas erzeugt wurden, auf erb­lich bedingte Schä­den vor ihrer Implan­ta­tion in die Gebär­mut­ter. Meist han­delt es sich dabei um Eltern, die das gene­ti­sche Risiko in sich tragen, ein schwer­be­hin­der­tes Kind zu zeugen. Wird ein schwer­wie­gen­der Gen­de­fekt bei dem nur drei Tage alten, 1/1000 mm großen Embryo in dessen 6- bis 8‑Zell-Sta­dium erkannt, wird dieser Embryo dann nicht implan­tiert, also aus­sor­tiert, und ein nicht defek­ter aus­ge­wählt. Kri­ti­ker der PID aus dem christ­lich-reli­giö­sen Lager sehen in diesem Aus­le­se­ver­fah­ren die Zer­stö­rung von mensch­li­chem Leben, da – so wird argu­men­tiert – ein Embryo bereits die Anlage zu einem voll­stän­di­gen Men­schen in sich trage. Die “Hei­lig­keit des Lebens”, die “Eben­bild­lich­keit des Men­schen mit Gott” und die “Beseelt­heit schon des Embryos” ver­bie­ten das Abster­ben­las­sen von Embryo­nen, auch wenn sie schwere Erb­schä­den erken­nen lassen. Die PID ist zwar nicht ver­bo­ten, aber mit hohen Hürden ver­se­hen, die eine Inan­spruch­nahme sehr erschweren.

In beiden … Fällen wird das grund­ge­setz­lich garan­tierte Recht auf Selbst­be­stim­mung über das eigene Leben und den eige­nen Körper massiv missachtet.”

Eine ähn­li­che Pro­ble­ma­tik zeigt die sog. Ster­be­hilfe für Men­schen mit unheil­ba­rer Krank­heit und uner­träg­li­chen Schmer­zen, die selbst den festen Wunsch nach Erlö­sung von ihrem Leiden äußern. Die bisher erlaubte Hilfe eines Arztes beim selbst gewünsch­ten Frei­tod ist inzwi­schen durch den Gesetz­ge­ber fak­tisch unter Strafe gestellt worden. Dahin­ter steht eben­falls die christ­lich-reli­giöse Auf­fas­sung, dass “das eigene Leben unver­füg­bar sei”, “allein Gott ent­scheide, wann das Leben endet” und “als Geschenk Gottes unter keinen Umstän­den ange­tas­tet werden dürfe”.

In beiden genann­ten Fällen wird das grund­ge­setz­lich garan­tierte Recht auf Selbst­be­stim­mung über das eigene Leben und den eige­nen Körper massiv miss­ach­tet. Als erklär­ter Nicht­christ akzep­tiere ich nicht, dass der Staat mir das grund­ge­setz­lich garan­tierte Selbst­be­stim­mungs­recht so weit­ge­hend beschnei­det. In einem demo­kra­ti­schen Staat, der vor­gibt, welt­an­schau­lich neu­tral zu sein, muss es mög­lich sein, unab­hän­gig von reli­giö­ser Bevor­mun­dung zu leben und auch zu ster­ben. Immer­hin haben inzwi­schen Gerichte bis hinauf zum Bun­des­ge­richts­hof das Selbst­be­stim­mungs­recht am Lebens­ende immer wieder bestätigt.

Bei allem Pro­test von kirch­li­cher Seite an den Initia­ti­ven nicht­re­li­giö­ser Kreise ist fest­zu­hal­ten, dass kein Christ gezwun­gen ist, sich der libe­ra­le­ren Auf­fas­sung eines Nicht­chris­ten zur Ster­be­hilfe anzu­schlie­ßen. Für einen wahren und über­zeug­ten Chris­ten müss­ten staat­li­che Gesetze zur Ster­be­hilfe, zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch oder etwa zur Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik über­flüs­sig sein, denn es müsste ihm ja ein gern erfüll­tes Anlie­gen sein, Gottes Gebote, wie sie die Kirche für ihn fest­legt, zu befol­gen. Dass es dafür staat­li­che Gesetze gibt, die auch für den Nicht­chris­ten gelten, der in diesen Fragen even­tu­ell eine andere, ebenso zu ach­tende Auf­fas­sung hat, ist dem immer noch vor­han­de­nen kirch­li­chen Stre­ben nach Herr­schaft “über die Seelen” geschuldet.

Dieses Stre­ben nach Macht und Ein­fluss mani­fes­tiert sich in gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren (z.B. im Erzie­hungs­we­sen), wirkt unbe­wusst als tra­dier­tes Wer­te­sys­tem noch in den Köpfen selbst Glau­bens­fer­ner und zeigt sich zum Bei­spiel in einem kirch­lich-staat­li­chen Macht­den­ken, das stets mehr durch Ver­bie­ten als durch Vor­le­ben und Über­zeu­gen gekenn­zeich­net war. Diese aus dem Glau­ben fol­gen­den straf­be­wehr­ten Ver­bote lassen einer­seits erken­nen, dass die Kirche ihrer eige­nen Kli­en­tel nicht traut, ande­rer­seits sich anmaßt, auch allen Nicht­gläu­bi­gen auf dem Umweg über staat­li­che Gesetze ihre Glau­bens­auf­fas­sung aufzuzwingen.

Wer sich bei medi­zi­nisch-ethi­schen Fragen auf ein Men­schen­bild beruft, das seine Wur­zeln in den Jahr­tau­sende alten Legen­den eines einst in der Wüste leben­den Hir­ten­vol­kes hat, wird in immer grö­ßere Abwehr­kämpfe gera­ten und sein Heil letzt­lich immer nur in Ver­bo­ten und mehr oder weni­ger will­kür­li­chen Ein­schrän­kun­gen sehen. Aus­schlag­ge­bende und hilf­rei­che Argu­mente in sol­chen Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen sind für mich die Ant­wor­ten auf die Leit­fra­gen: Wem nützt es? Wem scha­det es? Wie kann Wohl­be­fin­den, Gesund­heit, Glück ver­mehrt, wie kann Leid ver­hin­dert werden? Warum einem schwer­be­hin­der­ten, zukünf­tig lebens­lang lei­den­den Men­schen nicht schon vor seiner Geburt die Gnade der Nicht­exis­tenz gewäh­ren? Ist es mit christ­li­cher Barm­her­zig­keit zu ver­ein­ba­ren, einen schwerst­lei­den­den Men­schen der Folter unsäg­li­cher, nicht zu stil­len­der Schmer­zen bis zum natür­li­chen Tod auszuliefern?

Ich sehe das Leben mit gedank­lich erzeug­ten reli­giö­sen Kon­struk­ten, die das Ver­hal­ten der Men­schen lenken, als eine – einst ver­mut­lich vor­teil­hafte – evo­lu­tio­näre Phase der Mensch­heit an, die lang­sam abge­löst wird durch eine evo­lu­tio­när sich weiter ent­wi­ckelnde Wis­sen­schaft und Phi­lo­so­phie vom Men­schen. Am Hori­zont zeich­nen sich Lebens­kon­zepte ab, die ohne einen ima­gi­nier­ten Über­va­ter aus­kom­men und die sich auf die im Men­schen schlum­mern­den Kräfte besin­nen. Trotz des augen­blick­lich zu beob­ach­ten­den Rück­falls in die alten Illu­si­ons­sys­teme – was als ein letz­tes Auf­bäu­men eines alten Den­kens zu inter­pre­tie­ren ist – dürfte fest­ste­hen, dass die Zeit dieser alten Glau­bens­sys­teme sich dem Ende zuneigt. Den­noch muss wohl mit einem noch viele Jahr­zehnte dau­ern­den Kampf zwi­schen Ver­nunft und Glau­ben, zwi­schen rea­li­täts­be­zo­ge­nem und illu­si­ons­ge­steu­er­tem Denken gerech­net werden.

Denn welt­li­cher Huma­nis­mus sieht sich umstellt von reli­giö­sen – christ­li­chen, jüdi­schen und ver­stärkt in letz­ter Zeit isla­mi­schen – Kräf­ten, die ver­su­chen, mit poli­ti­schen, juris­ti­schen, päd­ago­gi­schen und media­len Mit­teln die Ent­fal­tung einer alter­na­ti­ven Welt­an­schau­ung zu behin­dern, wenn nicht zu ver­hin­dern. Diese welt­an­schau­li­chen Kon­flikte gefähr­den in einer zuneh­mend mul­ti­welt­an­schau­li­chen Gesell­schaft den sozia­len Frie­den. Die Lösung kann vor­erst nur in einer lai­zis­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung bestehen, das heißt, in einer kon­se­quen­ten Tren­nung von Staat und Reli­gion und in einer an der Erfah­rung ori­en­tier­ten und kon­kre­ter defi­nier­ten Religionsfreiheit.

(Der Arti­kel erschien zuerst in einer gekürz­ten Fas­sung in der Ber­li­ner Tages­zei­tung “Tages­spie­gel” . Der Autor hat dem hpd den kom­plet­ten Text zur Ver­öf­fent­li­chung überlassen.)