Leseprobe aus Kapitel III: Naturwissenschaft, Religion und menschliches Selbstverständnis

Naturwissenschaft, Religion und menschliches Selbstverständnis

 

Im Jahr 1999 ver­öf­fent­lichte der Ham­bur­ger Lite­ra­tur­pro­fes­sor Diet­rich Schwa­nitz (1940–2004) ein Buch mit dem Titel »Bil­dung« und dem her­aus­for­dern­den Unter­ti­tel »Alles, was man wissen muss«. Das volu­mi­nöse Buch ent­fachte die unter­schwel­lig stets prä­sente Dis­kus­sion erneut, was heute zur All­ge­mein­bil­dung bezie­hungs­weise zum Bil­dungs­ka­non in der Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft gehö­ren sollte. Das Buch wurde wegen der all­seits emp­fun­de­nen Bedeu­tung des Themas und nicht zuletzt auf­grund des kurz­wei­li­gen Stils ein Best­sel­ler. Dabei sich­tet der Autor – wie es im Klap­pen­text heißt – das gesamte kul­tu­relle Wissen unter der Fra­ge­stel­lung: Was trägt es zu unse­rer Selbst­er­kennt­nis bei? 1

Ich möchte zunächst dar­le­gen, dass das Buch von Schwa­nitz diese öffent­li­che Wert­schät­zung nicht ver­dient hat, und zwar des­we­gen nicht, weil es ein Bil­dungs­ideal aus ver­gan­ge­ner Zeit propagiert.

Auf über 540 Seiten brei­tet Schwa­nitz seine Über­le­gun­gen zu dem aus, was er unter Bil­dung ver­steht. Er spricht über die Geschichte Euro­pas, über große Werke der Lite­ra­tur, über die Geschichte von Kunst und Musik, über große Phi­lo­so­phen, Ideo­lo­gien, Theo­rien und Welt­bil­der und lässt uns wissen, wes­halb es so wich­tig ist, über lite­ra­ri­sche Figu­ren wie Don Qui­jote, Hamlet oder Faust Bescheid zu wissen. Soweit so gut und im Prin­zip auch ein­ver­stan­den. Kaum mehr als 10 Seiten, das sind nicht einmal 2 Pro­zent des Buches, widmet er dage­gen den Natur­wis­sen­schaf­ten. Der Bio­loge Darwin, der Phy­si­ker Ein­stein und der (natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tierte) Arzt und Psy­cho­loge Freud werden mit ihren Ein­sich­ten knapp – aber teil­weise falsch – dar­ge­stellt; auch ihre Rolle als Revo­lu­tio­näre unse­rer Sicht auf diese Welt wird ange­deu­tet. Was Schwa­nitz aber wirk­lich von den Natur­wis­sen­schaf­ten hält, offen­bart er frei­mü­tig am Ende seines Werkes:

»Die natur­wis­sen­schaft­li­chen Kennt­nisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch eini­ges zum Ver­ständ­nis der Natur, aber wenig zum Ver­ständ­nis der Kultur bei. … So bedau­er­lich es man­chem erschei­nen mag: Natur­wis­sen­schaft­li­che Kennt­nisse müssen zwar nicht ver­steckt werden, aber zur Bil­dung gehö­ren sie nicht.« 2

Hier zeigt sich – ich möchte das an dieser Stelle einmal so deut­lich for­mu­lie­ren – die typi­sche Igno­ranz, ja Arro­ganz eines immer noch ver­brei­te­ten Typs von Geis­tes­wis­sen­schaft­lern mit einem sehr tra­di­tio­na­lis­ti­schen Bil­dungs­be­griff, der nicht selten auch noch damit koket­tiert, von »Physik und Mathe­ma­tik keine Ahnung zu haben«. Schwa­nitz hätte statt­des­sen dar­über nach­den­ken sollen, was er, und natür­lich wir alle, zum Bei­spiel den Astro­no­men Niko­laus Koper­ni­kus (1473–1543) und Johan­nes Kepler (1571–1630) sowie dem Phi­lo­so­phen, Mathe­ma­ti­ker und Phy­si­ker Gali­leo Gali­lei (1564–1642) zu ver­dan­ken haben. Sie lösten durch das von ihnen ver­tre­tene helio­zen­tri­sche System die von der Kirche behaup­tete Auf­fas­sung von der gott­ge­ge­be­nen Stel­lung der Erde als Mit­tel­punkt der Welt ab. Der Phi­lo­soph und Astro­nom Giord­ano Bruno (1548–1600) ging noch dar­über hinaus und behaup­tete schon damals, dass das Uni­ver­sum uner­mess­lich groß sei und von unzäh­li­gen Sonnen wie der unse­ren erfüllt sei. An jedem Ort des Kosmos könnte man den Ein­druck haben, im Mit­tel­punkt der Welt zu stehen. Daher ver­biete es sich, die Erde oder unser Son­nen­sys­tem als Zen­trum einer gött­li­chen Natur­ord­nung anzusehen.

Worin bestand – neben der wis­sen­schaft­li­chen Leis­tung – die geis­tig-kul­tu­relle Bedeu­tung dieser Wis­sen­schaft­ler? Man kann es in einem Satz sagen: Sie wagten es, ihre Ein­sich­ten und Beob­ach­tun­gen über die Auto­ri­tät der Kirche und der Bibel zu stel­len, sie trau­ten sich, ihren Ver­stand zu benut­zen und ihre empi­ri­schen Erkennt­nisse gegen nur behaup­tete, angeb­li­che Wahr­hei­ten, wie sie zum Bei­spiel auch in den alten Schrif­ten eines Aris­to­te­les (384–322 v. u. Z.) nie­der­ge­legt waren, zu setzen. Ihr Inter­esse galt nicht mehr den tra­dier­ten Texten und ihrer Inter­pre­ta­tion, son­dern den beob­acht­ba­ren und mess­ba­ren Fakten der Wirk­lich­keit. Sie lei­te­ten damit die ent­schei­dende Wende im Denken jener Zeit ein und eta­blier­ten neben der Phi­lo­so­phie und Theo­lo­gie die Natur­wis­sen­schaf­ten als dritte prä­gende kul­tu­relle Dis­zi­plin. Gali­leo Gali­lei, Weg­be­rei­ter der moder­nen Natur­wis­sen­schaf­ten, hat die Geis­tes­hal­tung, die zu diesem Denken führte, so zum Aus­druck gebracht:

»Ich fühle mich nicht zu dem Glau­ben ver­pflich­tet, dass der­selbe Gott, der uns mit Sinnen, Ver­nunft und Ver­stand aus­ge­stat­tet hat, von uns ver­langt, die­sel­ben nicht zu benut­zen.« 3

Als Charles R. Darwin (1809–1882), wie vor ihm schon andere, erkannt hatte, dass der Mensch nicht aus einem Erdenkloß geformt worden ist, son­dern das Pro­dukt eines natür­li­chen Ent­wick­lungs­pro­zes­ses ist, und dass uns mit der übri­gen Tier­welt eine Viel­zahl von orga­ni­schen und ver­hal­tens­mä­ßi­gen Gemein­sam­kei­ten ver­bin­det, stellte diese Ein­sicht ein wei­te­res Mal das Mono­pol der Kirche auf Besitz und Ver­kün­dung angeb­lich ewiger Wahr­hei­ten in Frage. Die herr­schende Lehre der Kirche begann so nach und nach ihren domi­nie­ren­den Ein­fluss auf das Welt­bild und damit auch das Selbst­ver­ständ­nis des Men­schen zu ver­lie­ren. Dass die Erde und mit ihm auch der Mensch im Kosmos nur eine ganz unbe­deu­tende Rolle spie­len, dass womög­lich das Welt­all voll ande­rer Lebens­for­men ist, diese para­dig­ma­ti­sche, wahr­haft umwäl­zende Qua­li­tät von neuem Wissen sollte keinen Bil­dungs­wert haben?

Der Mensch und die Erde als Mit­tel­punkt der Welt oder wan­dernd irgendwo in den Weiten eines uner­mess­lich großen Kosmos? Der Mensch als Eben­bild Gottes oder ein zufäl­li­ges Pro­dukt einer sich selbst orga­ni­sie­ren­den Natur? Der Geist eine eigen­stän­dige, gött­li­che Wesen­heit oder eine Funk­tion der hoch­kom­plex orga­ni­sier­ten Mate­rie? Solche Fragen soll­ten ohne Ein­fluss auf mein Nach­den­ken über mich und die Welt sein? Hier irrte Schwa­nitz ohne jeden Zwei­fel gewal­tig, defi­niert er doch selbst den Bil­dungs­wert von Wissen über die Frage, was es zur Selbst­er­kennt­nis und zum Selbst­ver­ständ­nis des Men­schen beitrage.

Die Hirn­for­schung erbringt täg­lich neue Belege dafür, dass der »Geist nicht vom Himmel fiel«, son­dern eine Funk­tion des mate­ri­el­len Gehirns ist. Wenn schach­spie­lende Com­pu­ter einen Welt­meis­ter zu schla­gen in der Lage sind, dann wird deut­lich, dass über Com­pu­ter­pro­gramme geis­tige Leis­tun­gen mög­lich wurden, die bis­lang aus­schließ­lich dem Men­schen vor­be­hal­ten waren. Solche Ent­wick­lun­gen und die ihnen zugrunde lie­gen­den bio­lo­gi­schen und phy­si­ka­li­schen Erkennt­nisse soll­ten bedeu­tungs­los sein für unser Selbst­ver­ständ­nis? Die moderne Kos­mo­lo­gie behaup­tet, dass unsere Welt einen phy­si­ka­lisch erklär­ba­ren Anfang hat, und die Mikro­phy­sik hat uns längst wissen lassen, dass im inner­ato­ma­ren Gesche­hen der her­kömm­li­che Begriff von Kau­sa­li­tät sich auf­löst und unsere All­tags­lo­gik dort nicht mehr unein­ge­schränkt gilt. Diese neue Sicht auf die mate­ri­el­len Grund­la­gen unse­rer Exis­tenz sollte ohne Folgen blei­ben für unser Ver­ständ­nis von der Welt und damit unser Nach­den­ken über Grund und Sinn unse­rer Existenz?

Worin liegt die immer wieder zu beob­ach­tende geringe Wert­schät­zung natur­wis­sen­schaft­li­chen Wis­sens begründet?

His­to­risch gese­hen hat sie sicher ihre Wur­zeln in dem tief sit­zen­den Arg­wohn von Theo­lo­gie und Kirche gegen­über natur­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen, fühlte sich die christ­li­che Reli­gion doch schon immer von wis­sen­schaft­li­chen Ein­sich­ten bedroht. Der eigent­li­che Grund der kirch­li­chen Skep­sis gegen­über Wissen, das nicht den Texten der angeb­lich von Gott dik­tier­ten Bibel ent­nom­men wurde, vor allem aber gegen­über jeder Form von Natur­wis­sen­schaft, liegt tiefer und dürfte im gött­li­chen Verbot bestehen, vom »Baum der Erkennt­nis« zu essen. Im Alten Tes­ta­ment heißt es:

1. Buch Mose, Kapi­tel 2, Vers 16–17: »Dann gebot Gott, der Herr, dem Men­schen: Von allen Bäumen des Gar­tens darfst du essen, doch vom Baum der Erkennt­nis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du ster­ben.« 4

Zunächst einmal erscheint es mir sehr merk­wür­dig, gera­dezu aber­wit­zig, aus gött­li­chem Mund zu erfah­ren, dass die Fähig­keit zur Unter­schei­dung von »gut« und »böse« nicht erwünscht sein sollte. Aber es geht offen­bar nicht nur um die Erkennt­nis von »gut« und »böse«, es geht wohl ganz all­ge­mein um das Bestre­ben des Men­schen, sich und die Welt zu begrei­fen. Gott scheint die Neu­gier des Men­schen, hinter das Geheim­nis seiner Schöp­fung zu kommen, jedoch zu ver­dam­men. Der Kir­chen­leh­rer Augus­ti­nus (354–430) bekräf­tigte dieses gött­li­che Verdikt:

»Es gibt noch eine wei­tere Art der Ver­su­chung, die noch stär­ker mit Gefah­ren ver­bun­den ist. Es ist die Krank­heit der Neu­gier. Sie treibt uns dazu, dass wir die Geheim­nisse der Natur auf­de­cken wollen, jene Geheim­nisse, die außer­halb unse­res Ver­ständ­nis­ses liegen, die uns nichts nützen und die zu kennen, wir uns nicht wün­schen soll­ten.«

Die Kirche sah in diesen Worten über die Jahr­hun­derte offen­bar gera­dezu die Ver­pflich­tung, die Men­schen vor Ein­sich­ten abzu­schir­men, die ihnen womög­lich die Wider­sprü­che zwi­schen bibli­schem Wort und mensch­li­cher Erkennt­nis bewusst­ge­macht hätten. Aber wer Neu­gier ver­bie­tet, hin­dert die Gesell­schaft daran, sich weiter zu ent­wi­ckeln und schließ­lich die Lust an der Frei­heit des Den­kens zu ent­de­cken. Daran wollte und konnte die Kirche ganz offen­sicht­lich kei­ner­lei Inter­esse haben. Auf­ge­klärt­heit durch Wissen sowie Selbst­be­stim­mung durch Frei­heit von Denk- und Glau­bens­vor­ga­ben sind Basis­ele­mente einer Gesell­schaft unab­hän­gi­ger und sich frei ent­fal­ten­der Men­schen. Die Kirche, ins­be­son­dere die katho­li­sche mit einem auto­kra­tisch wal­ten­den Papst an der Spitze, konnte von einer sol­chen Ent­wick­lung nur Ver­lust an Ein­fluss und Macht erwar­ten. 6

Heute liegt das geringe Inter­esse an den Natur­wis­sen­schaf­ten in bestimm­ten Krei­sen wohl vor allem an der schu­li­schen Erfah­rung, dass der Erwerb natur­wis­sen­schaft­li­chen, spe­zi­ell mathe­ma­tisch for­mu­lier­ten Wis­sens mit erheb­li­chen Anstren­gun­gen ver­bun­den war und oft genug mit der Frus­tra­tion ver­geb­li­chen Bemü­hens endete. Die auf­bau­ende Freude, ja das Glücks­ge­fühl, das sich nach dem mühsam erwor­be­nen Ver­ständ­nis eines kom­pli­zier­ten, bei­spiels­weise phy­si­ka­li­schen Sach­ver­halts ein­stel­len kann, ist diesen Men­schen offen­bar nie zuteil gewor­den. Hinzu kommt das pro­ble­ma­ti­sche Vor­bild vieler nicht-natur­wis­sen­schaft­li­cher Lehrer, die in ihren Fächern direkt und indi­rekt zum Aus­druck brach­ten, dass wahre Bil­dung sich vor allem in der Hin­wen­dung zur Antike, zur schön­geis­ti­gen und gesell­schafts­po­li­ti­schen Lite­ra­tur und zur klas­si­schen Musik zeige, alles andere allen­falls schmü­cken­des Bei­werk sei. Und die schon früh­zei­tig gemachte Beob­ach­tung, dass erfolg­rei­che Per­sön­lich­kei­ten des öffent­li­chen Lebens selten Natur­wis­sen­schaft­ler waren und gern ihre mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­chen Defi­zite ein­räum­ten, trug ein Übri­ges dazu bei, natur­wis­sen­schaft­li­che Bil­dung als weni­ger rele­vant für Berufs­er­folg und Lebens­glück anzusehen.

Die Redak­tion der ange­se­he­nen Tages­zei­tung »Frank­fur­ter All­ge­meine« beschloss im Sommer 2006, in ihrem umfang­rei­chen Kul­tur­teil täg­lich einen oder zwei Berichte aus den Natur­wis­sen­schaf­ten unter­zu­brin­gen, die einen wesent­li­chen und unmit­tel­ba­ren Bezug zu Kultur und Gesell­schaft auf­wei­sen. Sie zog damit die Kon­se­quenz aus der Erkennt­nis, dass natur­wis­sen­schaft­li­che Befunde für unser heu­ti­ges Denken und Emp­fin­den von großer all­ge­mei­ner Bedeu­tung sein können. Diese Zei­tung leis­tet mit diesem erwei­ter­ten Kul­tur­be­griff einen Bei­trag, aus dem bloßen Neben­ein­an­der von Geistes‑, Sozial- bzw. Kul­tur­wis­sen­schaf­ten einer­seits und Natur­wis­sen­schaf­ten ande­rer­seits zu einem reflek­tier­ten Mit­ein­an­der zu kommen. Es war auch diese Zei­tung, die sei­ner­zeit eine mensch­li­che Genom­se­quenz in ganz­sei­ti­gem Format abdruckte und damit die Bedeu­tung dieses Erkennt­nis­fort­schritts in das öffent­li­che Bewusst­sein rückte.