Nachdenken über Gott, Gottvertrauen und Moral
In diesem Kapitel geht es letztlich um die Frage, ob ein Mensch auch ohne Gottesglauben moralisch handeln kann, ob also Moral ohne Gott möglich ist.
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Selbst der katholische Theologe Hans Küng (*1928), Autor vieler mit Gott und Christentum befasster Bücher, bekennt seine Ratlosigkeit, wenn er in seinem Buch »Credo« schreibt:
»… ich gestehe darüber hinaus, dass ich nach Auschwitz, dem Gulag und zwei Weltkriegen erst recht nicht mehr vollmundig von ›Gott, dem Allmächtigen‹ reden kann, der da als ›ab-soluter‹ Machthaber ›los-gelöst‹, unberührt von allem Leid, doch alles dirigiert, alles macht oder mindestens alles machen könnte, wenn er wollte, und der dann doch angesichts größter Naturkatastrophen und Menschheitsverbrechen nicht eingreift, sondern schweigt und schweigt und schweigt …« 12
Es ist aber nicht nur das verabscheuungswürdige Verhalten von Menschen, in viel größerem Maße ist es die Natur, die durch Krankheiten und Katastrophen die Ursache schlimmsten Elends darstellt. Lepra, Malaria, Pest und Krebs, um nur einige der verheerenden Krankheiten zu nennen, haben über die Jahrtausende Hunderte von Millionen Menschen erbärmlich dahinvegetieren lassen und um Lebensglück und Leben gebracht. Die Hilferufe nach oben zu Gott wendeten das Schicksal der Betroffenen nicht, erst moderne Wissenschaft und Medizin waren in der Lage, hier eine entscheidende, wenn auch noch längst keine vollständige Hilfe zu leisten.
Im Jahre 2005 jährte sich zum 250. Mal eine Naturkatastrophe, die wie keine andere das religiöse und naturwissenschaftliche Denken verändert hatte. Das schwere Erd- und Seebeben von Lissabon am 1. November 1755 veranlasste Philosophen, Naturwissenschaftler und Dichter wie Kant, Voltaire oder Goethe, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, dass solche Naturereignisse als Strafen Gottes anzusehen sind. Nach und nach setzte sich die Einsicht durch, dass Erdbeben, Vulkanausbrüche, Wirbelstürme und Flutwellen natürliche Vorgänge sind, die mit der physikalischen Natur einer unruhigen Erde erklärt werden können. Kant (1724–1804) entwickelte daraufhin eine auf naturwissenschaftlicher Basis begründete Theorie der Erdbeben. Sie war aus heutiger Sicht zwar falsch, aber sie stellte eine nachdrückliche Abkehr von der Auffassung dar, dass solche Menschen verschlingenden Naturkatastrophen wie das Beben von Lissabon eine Rache Gottes für sündhaftes Verhalten darstellten.
Dieses Beben hatte für das Denken der damaligen Zeit auch deswegen umwälzende Folgen, weil mit Lissabon eine katholisch geprägte Stadt am Morgen des Allerheiligentages mit voll besetzten Kirchen und Kathedralen getroffen wurde. Das Erdbeben, die sieben Meter hohe Flutwelle und der anschließende Brand töteten wohl an die 30 000 Menschen. Andere Berichte sprechen gar von 60 000 bis über 100 000 Toten, zählt man die Opfer des ganzen Küstenbereichs mit. Die Verwirrung war vollkommen: Gott löschte eine katholische Metropole aus, zu damaliger Zeit die viertgrößte Stadt Europas, an einem heiligen Tag, an dem sich fast alle Menschen lobpreisend in den Häusern Gottes befanden. Voltaire (1694–1778), unabhängiger und kritischer in seinem Denken als der Kirche lieb sein konnte, schrieb ein provokantes Gedicht über das Erdbeben (Poème sur la désastre de Lisbonne) und regte damit ebenfalls eine Diskussion an über die fragwürdige, Gott unterstellte Rolle bei Naturkatastrophen.
Von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) weiß man, dass das Beben von Lissabon ihn erheblich irritierte und seine vorsichtige Distanzierung von Kirche, Christentum und einem angeblich gerechten Gott einleitete. Der junge Goethe schreibt anlässlich dieses Ereignisses in »Dichtung und Wahrheit«:
»Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen musste [gemeint sind die vielen Berichte und religiösen und philosophischen Kommentare über das Erdbeben, U. L.], war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, der ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, sich nicht vereinigen konnten.« 13
Das Beben bildete eine tiefe Zäsur in der europäischen Geistesgeschichte. Die optimistische Sicht, die der Philosoph und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in die Worte »von der besten aller Welten« gefasst hatte, wich nüchterner Betrachtung. Denn denkenden und reflektierenden Menschen war es offenbar kaum oder gar nicht mehr möglich, die über Wort und Schrift behauptete Allmächtigkeit und Barmherzigkeit Gottes mit dem tatsächlichen Geschehen und dem damit verbundenen menschlichen Leiden in Übereinstimmung zu bringen. Zwei große Naturkatastrophen der jüngeren Zeit, der Tsunami in Südostasien im Jahre 2004 und das Erdbeben in Kaschmir im Jahre 2005, mit Hunderttausenden Toten, Millionen Verletzten, zerstörten Häusern und unter erbärmlichen Bedingungen dahinvegetierenden Menschen, haben bei uns das Nachdenken über die Unvereinbarkeit der herkömmlichen Gottesvorstellung mit der beobachtbaren Wirklichkeit erneut aufleben lassen. In den Fernsehberichten war zu sehen, wie völlig verstörte kleine Kinder zwischen Trümmern und Leichen umherirrten. Ihre Eltern waren in der Flutwelle umgekommen, sie selbst konnten noch nicht einmal ihren eigenen Namen nennen. Wo ist der Gott, der angeblich die Kinder liebt? Interessiert er sich überhaupt für das Geschehen auf dieser Erde? Oder könnte es sein, dass wir die völlig falschen Fragen stellen?
Und in der Tat stellen sich Asiaten, sofern sie nicht Christen oder Moslems sind, sondern Anhänger des Hinduismus, des Buddhismus, des Konfuzianismus oder des Shintoismus, solche Fragen nicht. Wer keinen persönlichen beziehungsweise personalen, dem Menschen gleichenden Gott verehrt, der gerecht und gütig ist, der straft und vergibt, der kann sich, wenn ihn das Schicksal heimsucht, auch nicht beschweren oder gar auflehnen. Einen Gott, der für das Geschehen im Leben verantwortlich zu machen wäre oder der einem bei der Sinnsuche helfen könnte, gibt es bei ihnen nicht. Das Leiden wird als unvermeidliches Schicksal angesehen.
Beim Buddhismus wird sogar Leben und Leiden gleichgesetzt, man kann dem Leiden zunächst nicht entfliehen. Aber man kann dem Leiden entgegentreten, indem man dessen Ursachen und Folgen bekämpft und dadurch positives Karma ansammelt. Durch genügend viel positives Karma, das man durch gute Werke erwirbt, besteht schließlich – so die Überzeugung – die Möglichkeit der Selbsterlösung aus diesem durch Wiedergeburten gekennzeichneten Leidenskreislauf. Der gläubige Moslem dagegen betrachtet sich als Allahs absoluten Untertan. Schicksalsschläge wie Erdbeben oder Krankheiten begreift er als obersten Willen, den es ähnlich christlicher Einstellung nicht in Frage zu stellen gilt.
Anlässlich der erwähnten Flutkatastrophe traten die damals höchsten Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen Deutschlands, Kardinal Lehmann und Bischof Huber, am 9. Januar 2005 bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst im Berliner Dom auf. Beide rangen in ihren Predigten, rat- und hilfesuchend gen Himmel blickend, nach den hier noch möglichen Worten. Kardinal Lehmann verglich das Tsunami-Unglück mit der Sintflut der Bibel und erinnerte an frühere Naturkatastrophen, die Atombombenabwürfe, an Auschwitz und den Holocaust. »Es gibt eben unsägliches, durch und durch unverständliches Leid. Auch die Bibel kennt die Klage gegen Gott.« Als Christ finde er keine andere Antwort als den Blick auf das Kreuz Jesu. Und er fragte laut und vernehmlich: »Gott, wo warst Du?«
Die Hilflosigkeit und die Bedrückung, die aus den Worten des Kardinals sprachen, fielen mir auf. Sie hatten nichts mehr von jener selbstsicheren, ja manchmal selbstherrlichen Gewissheit eines hohen kirchlichen Amtsträgers, der schon von Berufs wegen unbedingte Glaubenssicherheit ausstrahlen muss. Ich fand seine Äußerungen bemerkenswert, weil sie in ihrer offen gezeigten Ratlosigkeit auf mich aufrichtig und wahrhaftig wirkten. Ein ähnlich bemerkenswertes Wort gibt es von Papst Johannes Paul II. anlässlich einer Generalaudienz im Jahr 2002:
»Es gibt neben dem Schwert und dem Hunger eine noch größere Tragödie, nämlich die des Schweigens Gottes, der sich nicht mehr offenbart und sich scheinbar in seinem Himmel eingeschlossen hat, so als sei er des menschlichen Tuns überdrüssig.« 14
Erdbeben wie das in Haiti 2010 mit über 300 000 Toten und ebenso vielen Verletzten oder das gewaltige Beben von 2011, das mit dem Namen Fukushima verbunden ist und »nur« etwa 20 000 Tote forderte, aber infolge davon gewaltige bauliche, landschaftliche und ökologische Schäden und – wie immer bei solchen Katastrophen – kaum zu heilendes menschliches Leid verursachte, bringen die Kirchen regelmäßig in Erklärungsnöte. Ihnen fällt dann meist nur ein, die Überlebenden aufzufordern, für die Opfer zu beten. Aber welchen Sinn soll eine solche Anrufung Gottes haben? Wenn man ihm offenbar zutraut, den Getöteten und Gequälten Gnade und Hilfe zukommen zu lassen, dann wäre es doch sehr viel naherliegender, ihn darum zu bitten, solche Katastrophen erst gar nicht eintreten zu lassen. Aber das traut man der Kraft der Gebete oder der Macht des angebeteten Gottes offenbar nicht zu. Dass Christen sich neben Gebeten aktiv an der Hilfe für in Not geratene Menschen beteiligen, sei ausdrücklich erklärt. Aber darin unterscheiden sie sich nicht von anderen mitfühlenden Menschen.
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4. Was andere denken und wie ich es sehe
Ende September 1997 erschütterte ein schweres Erdbeben die mittelitalienische Region Umbrien und ließ am Wirkungsort des heiligen Franz von Assisi die Doppelkirche San Francesco des Franziskanerklosters einstürzen. Dabei wurden – wie die Tagespresse seinerzeit vermeldete – zwei betende Priester von der herabstürzenden Kirchendecke unerwartet und plötzlich um ihr Leben gebracht. Ihre Frömmigkeit und ihr Beten halfen ihnen offenbar nicht, sie wurden ihnen vielmehr zum Verhängnis, vergleichbar dem Geschehen infolge des Erdbebens von Lissabon 1755, bei dem besonders viele Menschen während des Gottesdienstes in den städtischen Kirchen und Kathedralen ums Leben kamen. Hört Gott die Gebete nicht oder will er sich in seinem auf Allwissenheit und Allmacht gründenden Handeln nicht von den für ihn irrelevanten menschlichen Motiven beeinflussen lassen?
Selbst Priester und Bischöfe verlassen sich, wenn sie zum Beispiel krank werden, nicht mehr nur auf das Beten, sondern konsultieren Ärzte und lassen sich von modernster medizinischer Wissenschaft kurieren. Ja, sogar Papst Johannes Paul II. und »Stellvertreter Gottes auf Erden«, der im Frühjahr 2005 schwer erkrankte, nutzte bis zu seinem Ableben mehr medizinische Technik, als ein normaler Sterblicher je zu sehen bekommt. Auf die weltweit und mit größter Inbrunst gesprochenen Gebete allein wollte man sich offenbar nicht verlassen.
Christen, überhaupt Gottgläubige, glauben an die Kraft des Gebetes. Sie glauben, dass Gott sie erhört und sie beispielsweise von einer tückischen Krankheit heilen oder den Verlauf einer schweren Operation günstig beeinflussen kann. Bei Eintreten des erflehten Erfolgs ist zwar nicht feststellbar, ob Gott hier helfend eingegriffen hat, auf jeden Fall aber bestärkt es den Glauben an Gottes Mithilfe. Fast alles, was sich Menschen erhoffen können, wird Gott im Gebet vorgetragen. Allerdings betet man offensichtlich nur in jenen Fällen, bei denen das erwünschte Eintreten des Erfolgs nach aller Lebenserfahrung prinzipiell möglich ist: bei der Heilung einer Lungenentzündung, der Geburt eines gesunden Kindes oder etwa der erflehten Rückkehr des geliebten Lebenspartners. Das Nachwachsen eines infolge Krankheit amputierten Beines oder durch Unfall verlorenen Auges oder gar das Wiedererwachen eines verstorbenen Kindes wird trotz der Allmächtigkeit, die man Gott attestiert, offenbar nicht durch ein Gebet erhofft. Zu offenkundig ist hier die Aussichtslosigkeit eines Gebets erkennbar. Aus Wallfahrtsstätten wie dem französischen Lourdes ist von solchen Gebeten oder gar Heilungen auch noch nie berichtet worden.
Und eine weitere ketzerische Frage kann ich in diesem Zusammenhang nicht unterdrücken: Wie groß ist eigentlich das immer wieder beschworene Gottvertrauen, wenn selbst der Papst als »Stellvertreter Gottes« im Panzerglas-geschützten Papamobil herumfährt und zum Beispiel die Gotteshäuser vorsichtshalber durch einen Blitzableiter geschützt werden?
Einem Gläubigen mögen diese letzten Zeilen gotteslästerlich und verletzend vorkommen. Aber es muss erlaubt sein, solche Feststellungen zu treffen. Ich frage mich ganz vorurteilsfrei und ohne jede beleidigende Absicht: Wann ist je den Bedrängten durch Beten Hilfe von oben gekommen? Gebetet wurde und wird seit Menschengedenken in den Häusern mit Kranken und Sterbenden, auf den Schlachtfeldern der bis heute stattfindenden Kriege, in Luftschutzkellern mit zu Tode verängstigten Menschen, in den großen Vernichtungslagern der Nationalsozialisten und Kommunisten, unter den Trümmern der durch Erdbeben zerstörten Häuser. Wurden je die Schreie und Gebete in den Folterkellern der Inquisition oder aus den brennenden Scheiterhaufen erhört? Haben diese Menschen etwa nicht intensiv genug geglaubt, nicht inständig genug gebetet?
Worauf gründen die Millionen Gläubigen ihre Hoffnung auf Erhören ihrer Gebete, wenn man doch weiß, dass trotz verzweifelten Hoffens und Flehens Menschen in unfassbar großer Anzahl durch Naturkatastrophen und Seuchen ein viel zu frühes Ende fanden? Welchen Grund sollte ich haben, mit der Hilfe Gottes zu rechnen, wenn er offenbar unbeteiligt zusah, wie Millionen Juden in einen elenden Gastod geschickt wurden? Auch sie richteten ihre von Todesängsten gezeichneten Blicke nach oben. Hat Gott dem Leiden der Menschen nur interessiert zugeschaut? In Anbetracht der ihm zugeschriebenen Allmächtigkeit müsste man ihn eigentlich wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen.
Bei nüchterner Betrachtung muss man feststellen – ich bin jedenfalls überzeugt davon – dass Hilfe, wenn sie denn eintrifft, auch ohne Beten kommt, und zwar von anderen Menschen oder durch Selbsthilfe oder aufgrund zufälligen Geschehens. Zwar wird der Gläubige den ihm zuteil gewordenen Beistand wieder als das Eingreifen Gottes deuten. Den Beweis für seine Behauptung wird er natürlich schuldig bleiben, so wie auch ich nicht beweisen könnte, dass Gott hier nicht seine Hand im Spiel gehabt hätte. Die Beweislast für seine Behauptung trägt allerdings der Gläubige. Denn ich kann das Geschehen auf natürliche Art erklären, der Andere sieht darin das Wirken Gottes, der sich lediglich der natürlichen Mittel bedienen würde. Das aber ist eine überflüssige und irrationales Denken fördernde Deutung. Wenn mein Auto stehen geblieben ist, vielleicht wegen eines verstopften Vergasers, dann hilft die Aussage, dass »der Teufel ins Auto gefahren sei« dem herbeigerufenen ADAC-Helfer auch nicht weiter.
Das bekannte, fast zynisch zu nennende Wort »Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott« bringt jedenfalls die Lebenserfahrung zum Ausdruck, dass die scheinbar von Gott erhaltene Hilfe nichts anderes ist als das in der Not erfolgte selbsttätige Eingreifen. Dabei ist sicherlich richtig, dass intensives und glaubenserfülltes Beten Kräfte mobilisieren kann, die weit über das hinausgehen können, was man sich selbst zuvor zutraute. Was dem Gläubigen dann wie Gottes Hilfe erscheint, stellt für den Nichtgläubigen ein Phänomen dar, das sich schlicht psychologisch erklären lässt.
Aber vielleicht verlangt die soziale Natur des Menschen einfach so intensiv nach einem Partner, dass man ihn sich einfach nur vorstellen muss, um das Gefühl nach Nähe und Kommunikation zu befriedigen. Offensichtlich lebt so manch Bedrängter in einer – wenn auch nur gedanklichen – Gemeinschaft leichter, hoffnungsvoller und erfüllter. Viele Menschen brauchen offenbar ein allmächtiges »Du«, dem sie ihre Wünsche, Hoffnungen, Verzweiflung anvertrauen können. Es ist gut vorstellbar, dass Menschen in seelischer Not in einer solchen verinnerlichten Beziehung ihren Trost finden.
»Gott lässt die Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« Man könnte dieses Bibelwort ergänzen und sagen, er lässt Hilfe zuteilwerden den Betenden und den nicht Betenden. Was aber nichts anderes bedeuten würde, als dass mein Blick nach oben keinen Einfluss darauf hat, wie Gott zu mir steht. Ich kann in keiner Weise erkennen, ob meine Gebete erhört werden, ob mein Verhalten in irgendeiner Weise von Gott bewertet wird. Zurück bleibt also die alte Ratlosigkeit und Ungewissheit darüber, ob und wieweit Gott in unser Leben eingreift, ja, ob er überhaupt existiert.
Wenn Gott über die Eigenschaft Allwissenheit verfügt, dann wüsste er, wie schwer so viele Menschen mit der Frage ringen, ob es ihn gibt und ob er sich für uns Menschen interessiert. Dann würde er erkennen, wie verzweifelt sie seine Antwort erflehen und wie sehr sie sich nach seiner beschützenden Hand sehnen. Die Kirche »weiß«, dass Gott uns geschaffen hat, dass er uns unendlich liebt, dass er allmächtig und allwissend ist, sie weiß angeblich, was Gott will, sie behauptet so viel von ihm zu wissen – warum er sich hier unten »auf Erden« so selten sehen lässt, dass er sich geradezu vor uns zu verstecken scheint, weiß sie offenbar nicht.
Wenn wir Gott in seiner Unerforschlichkeit und Rätselhaftigkeit mit unserem Verstand nicht erfassen und schon gar nicht uns seiner Existenz vergewissern können, wäre es doch an ihm, sich uns zu offenbaren. Aber in einer verständlichen und eindeutigen Weise, nicht über offensichtlich von Menschen niedergeschriebene Texte wie die Bibel, den Koran, die Thora oder zum Beispiel die hinduistischen Veden. Diese angeblich göttlichen Offenbarungen haben alle ihre eigenen, miteinander nicht verträglichen Auffassungen von Gott und der Welt, haben bis heute zu erbitterten religiösen Auseinandersetzungen und dem gegenseitigen Abschlachten im Namen ihres jeweiligen Gottes geführt. Jede dieser Weltreligionen beansprucht, den wahren Gott anzubeten.
Wenn Gott ein Gott der Liebe und der Barmherzigkeit, ein Inbegriff der Moral ist, dann müsste es ihm doch sehnlichstes Anliegen sein, dem gegenseitigen Verfolgen und Umbringen des jeweils Andersgläubigen ein Ende zu bereiten. Gelungen ist dies bisher nur den Menschen selbst, und zwar vor allem den Gesellschaften, die sich durch Aufklärung von der Vorherrschaft der Religion befreien konnten. Gottes Wirken war dabei nicht zu erkennen.
Ist es denn zu viel erhofft, ist es kindlich naiv oder zeugt es von völligem Missverstehen des Wesens Gottes, eine eindeutige Botschaft von ihm zu erwarten? Wenn diesem Gott an den Menschen und an der Welt so viel liegt, wie es uns seine Vertreter hier auf Erden täglich verkünden, dann wäre eine Demonstration seiner Macht und seines Interesses an uns so unendlich hilfreich. Könnte er nicht ein wahres Wunder bewirken, also einen übernatürlichen, die Naturgesetze außer Kraft setzenden Eingriff in das Naturgeschehen vornehmen? Zum Beispiel könnte er in einer weltweit erkennbaren Schrift am Firmament in der Sprache eines jeden Menschen auf seine Existenz hinweisen oder allen technischen Unmöglichkeiten trotzend gleichzeitig auf allen Bildschirmen dieser Welt erscheinen. Früher nutzte Gott angeblich solche Wunder, um seine Macht und Herrlichkeit zu demonstrieren. Die Bibel berichtet von der spontanen Heilung Kranker und der Verwandlung von Wasser in Wein, von der Auferstehung von Jesus nach seinem Kreuzestod und seiner späteren Himmelfahrt. Die katholische Kirche zum Beispiel ist noch heute von den übernatürlichen Erscheinungen Marias in Lourdes und Fátima überzeugt und sieht auch viele andere Wunder – im Sinne von »nicht natürlich erklärbar« – als erwiesen an. Auch die anderen großen monotheistischen Glaubenssysteme verweisen auf Wunder, um ihre Glaubwürdigkeit zu unterstreichen.
Ich sehe es allerdings schon vor mir: das mitleidige Lächeln von Gläubigen und Erleuchteten ob meiner Naivität und Einfalt. Sie werden mir sagen, dass Gott sich so nicht herausfordern ließe. Nur meine freiwillige Hinwendung zum Glauben könne Erfolg haben, nur wenn ich mich ganz öffne und hingebe, wird er sich mir offenbaren. Mit dem Offenbaren ist das allerdings so eine seltsame Sache. Die weltweit zu allen Zeiten aufgetretenen Seher, Erleuchteten und Propheten oder sonst wie durch den Besitz angeblich göttlicher Wahrheiten ausgezeichneten Menschen kamen – nicht zuletzt aufgrund ihrer unterschiedlichen kulturellen Prägungen – jeweils zu ganz anderen Einsichten und Vorstellungen von Gott. Sie begründeten völlig unterschiedliche Religionen, basierend auf sehr unterschiedlichen, angeblich durch Gott inspirierten Texten und bedingungslos zu glaubenden heiligen Sätzen. Natürlich sahen sie in den anderen religiösen Überzeugungen zu bekämpfenden Aberglauben oder gar den Teufel am Werk. Die daraus entstandenen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der jeweils »wahren« Religion und aus deren Sicht jeweils Ungläubigen halten in voller Intensität bis heute an. Selbst innerhalb des Christentums gibt es unzählige, sich gegenseitig nicht anerkennende Varianten des rechten Weges zu Gott. Sollte der »wahre« Gott das so gewollt haben?
Die Tatsache, dass Gott sich so wenig eindeutig äußert und nur über fast beliebig interpretierbare Zeichen zu uns spricht und ansonsten »schweigt und schweigt und schweigt« (Küng), ist für mich ein besonders schwerwiegendes Argument gegen die Annahme eines Gottes, der die Welt angeblich liebt und an uns interessiert sei. Aber auch die Existenz so vieler verschiedener Religionen mit je einer anderen Gottesvorstellung, die daraus folgenden über Jahrtausende bis heute gegeneinander geführten Glaubenskriege und das gleichgültige Schweigen dieser Götter angesichts der in ihren Namen begangenen, nicht mehr in Zahl und Maß fassbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit bilden für mich eine ebenso schwerwiegende Begründung, dass es den uns suggerierten »lieben Gott« oder »barmherzigen Gott« nicht geben kann. Er ist schlicht und einfach eine gedankliche Konstruktion, eine Wunschvorstellung, entstanden aus der tief empfundenen Sehnsucht der Menschen nach Schutz, Hilfe, Trost und Orientierung, gefördert durch eine den anderen in der Regel intellektuell überlegene Priesterkaste, die darin seit Menschengedenken eine Möglichkeit für sich sah, Macht und Einfluss über andere Menschen zu gewinnen.
Auch wenn es heute sicher sehr viele Priester und Pfarrer gibt – dasselbe gilt auch für andere Glaubensbekenntnisse – die aus voller Glaubensüberzeugung und mit allen ihren Kräften anderen Menschen in bewundernswerter Weise Nächstenliebe und Zuwendung entgegenbringen und keine Machtinteressen mehr verfolgen, an der Tatsache, dass sie einer Illusion anhängen, ändert sich für mich dadurch nichts. Und dass Millionen Menschen aus dieser bloßen Wunschvorstellung Mut und Zuversicht gewinnen und ihnen Gott oft als letzte Rettung erscheint, bezweifele ich ebenfalls nicht. Dennoch gilt für mich: Diese Art von Gottesglauben und die Bilanz meines Nachdenkens über Gott und die Welt passen für mich nicht zusammen!
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Was bin ich nun? Bin ich ein Atheist, der Gottes Existenz strikt leugnet? Bin ich vielleicht doch eher ein Agnostiker, also einer, der das Göttliche für unerkennbar hält, aber dessen Existenz nicht unbedingt verneint?
Als ein – hoffentlich – mit Vernunft begabtes Wesen sehe ich mich nicht in der Lage, an den mir über unsere Kultur vermittelten »lieben Gott« zu glauben. Daher kann ich auch nicht die Vorstellung haben, von dieser göttlichen Instanz dereinst erlöst zu werden. Wer einmal »vom Baum der Erkenntnis« gegessen hat, für den gibt es kein Zurück. Zu viele Widersprüche zwischen verkündeter Botschaft und erlebter Wirklichkeit, zwischen Glauben und Wissen tun meinem Verstand weh. Daher ist mein Nicht-Glaube nicht auch eine Art »Glaube«, wie gern unterstellt wird, sondern eher die Überzeugung von der Nichtexistenz eines solchen höheren Wesens. Irgendwo las ich einmal die – zugegeben polemisch klingende – Ansicht, Atheismus als eine Art Glauben zu bezeichnen, entspräche der Auffassung, dass Gesundheit auch nur eine Art Krankheit sei.
Ich frage mich: Wirkt es überheblich, gar arrogant, wenn ich meine, dass das Bekenntnis zu einer als gottfrei gedachten Welt etwas mit philosophisch-naturwissenschaftlicher Bildung, mit intellektueller Redlichkeit und persönlichem Mut zu tun hat?
Aber auch das weiß ich: Mein und unser aller Verstand ist begrenzt, vieles können wir nicht sehen, vieles nicht denken und begreifen, noch viel mehr nicht wissen, und wer weiß, wie viel wir nicht einmal erahnen? Es wird dereinst Antworten geben, zu denen wir heute noch nicht einmal die Fragen dazu haben. Die in der Unbegreiflichkeit der Realität verborgene potenzielle Perspektive, in hundert Jahren vielleicht über ganz andere Einsichten zu verfügen, sollte uns vor bloßen Behauptungen über »Gott und die Welt« bewahren.
So halte ich denn meinen Geist und meine Seele – so ich denn eine hätte – offen für Einsichten, die mir vielleicht bisher verborgen geblieben sind. Der Christ und der Muslim freuen sich auf den Himmel, der ihnen dereinst unendliche Freuden bescheren wird. Ich bin da bescheidener und freue mich darüber, ein wenn auch winziger Teil des Universums zu sein, der sich vorübergehend als ein »Ich« empfinden und sich dieses unbegreiflichen Universums bewusst werden konnte. …