Leseprobe aus Kapitel V: Nachdenken über Gott, Gottvertrauen und Moral

Nachdenken über Gott, Gottvertrauen und Moral

 

In diesem Kapi­tel geht es letzt­lich um die Frage, ob ein Mensch auch ohne Got­tes­glau­ben  mora­lisch han­deln kann, ob also Moral ohne Gott mög­lich ist.

Selbst der katho­li­sche Theo­loge Hans Küng (*1928), Autor vieler mit Gott und Chris­ten­tum befass­ter Bücher, bekennt seine Rat­lo­sig­keit, wenn er in seinem Buch »Credo« schreibt:

»… ich gestehe dar­über hinaus, dass ich nach Ausch­witz, dem Gulag und zwei Welt­krie­gen erst recht nicht mehr voll­mun­dig von ›Gott, dem All­mäch­ti­gen‹ reden kann, der da als ›ab-solu­ter‹ Macht­ha­ber ›los-gelöst‹, unbe­rührt von allem Leid, doch alles diri­giert, alles macht oder min­des­tens alles machen könnte, wenn er wollte, und der dann doch ange­sichts größ­ter Natur­ka­ta­stro­phen und Mensch­heits­ver­bre­chen nicht ein­greift, son­dern schweigt und schweigt und schweigt …« 12

Es ist aber nicht nur das ver­ab­scheu­ungs­wür­dige Ver­hal­ten von Men­schen, in viel grö­ße­rem Maße ist es die Natur, die durch Krank­hei­ten und Kata­stro­phen die Ursa­che schlimms­ten Elends dar­stellt. Lepra, Mala­ria, Pest und Krebs, um nur einige der ver­hee­ren­den Krank­hei­ten zu nennen, haben über die Jahr­tau­sende Hun­derte von Mil­lio­nen Men­schen erbärm­lich dahin­ve­ge­tie­ren lassen und um Lebens­glück und Leben gebracht. Die Hil­fe­rufe nach oben zu Gott wen­de­ten das Schick­sal der Betrof­fe­nen nicht, erst moderne Wis­sen­schaft und Medi­zin waren in der Lage, hier eine ent­schei­dende, wenn auch noch längst keine voll­stän­dige Hilfe zu leisten.

Im Jahre 2005 jährte sich zum 250. Mal eine Natur­ka­ta­stro­phe, die wie keine andere das reli­giöse und natur­wis­sen­schaft­li­che Denken ver­än­dert hatte. Das schwere Erd- und See­be­ben von Lis­sa­bon am 1. Novem­ber 1755 ver­an­lasste Phi­lo­so­phen, Natur­wis­sen­schaft­ler und Dich­ter wie Kant, Vol­taire oder Goethe, von der Vor­stel­lung Abschied zu nehmen, dass solche Natur­er­eig­nisse als Stra­fen Gottes anzu­se­hen sind. Nach und nach setzte sich die Ein­sicht durch, dass Erd­be­ben, Vul­kan­aus­brü­che, Wir­bel­stürme und Flut­wel­len natür­li­che Vor­gänge sind, die mit der phy­si­ka­li­schen Natur einer unru­hi­gen Erde erklärt werden können. Kant (1724–1804) ent­wi­ckelte dar­auf­hin eine auf natur­wis­sen­schaft­li­cher Basis begrün­dete Theo­rie der Erd­be­ben. Sie war aus heu­ti­ger Sicht zwar falsch, aber sie stellte eine nach­drück­li­che Abkehr von der Auf­fas­sung dar, dass solche Men­schen ver­schlin­gen­den Natur­ka­ta­stro­phen wie das Beben von Lis­sa­bon eine Rache Gottes für sünd­haf­tes Ver­hal­ten darstellten.

Dieses Beben hatte für das Denken der dama­li­gen Zeit auch des­we­gen umwäl­zende Folgen, weil mit Lis­sa­bon eine katho­lisch geprägte Stadt am Morgen des Aller­hei­li­gen­ta­ges mit voll besetz­ten Kir­chen und Kathe­dra­len getrof­fen wurde. Das Erd­be­ben, die sieben Meter hohe Flut­welle und der anschlie­ßende Brand töte­ten wohl an die 30 000 Men­schen. Andere Berichte spre­chen gar von 60 000 bis über 100 000 Toten, zählt man die Opfer des ganzen Küs­ten­be­reichs mit. Die Ver­wir­rung war voll­kom­men: Gott löschte eine katho­li­sche Metro­pole aus, zu dama­li­ger Zeit die viert­größte Stadt Euro­pas, an einem hei­li­gen Tag, an dem sich fast alle Men­schen lob­prei­send in den Häu­sern Gottes befan­den. Vol­taire (1694–1778), unab­hän­gi­ger und kri­ti­scher in seinem Denken als der Kirche lieb sein konnte, schrieb ein pro­vo­kan­tes Gedicht über das Erd­be­ben (Poème sur la désastre de Lis­bonne) und regte damit eben­falls eine Dis­kus­sion an über die frag­wür­dige, Gott unter­stellte Rolle bei Naturkatastrophen.

Von Johann Wolf­gang von Goethe (1749–1832) weiß man, dass das Beben von Lis­sa­bon ihn erheb­lich irri­tierte und seine vor­sich­tige Distan­zie­rung von Kirche, Chris­ten­tum und einem angeb­lich gerech­ten Gott ein­lei­tete. Der junge Goethe schreibt anläss­lich dieses Ereig­nis­ses in »Dich­tung und Wahrheit«:

»Der Knabe, der alles dieses wie­der­holt ver­neh­men musste [gemeint sind die vielen Berichte und reli­giö­sen und phi­lo­so­phi­schen Kom­men­tare über das Erd­be­ben, U. L.], war nicht wenig betrof­fen. Gott, der Schöp­fer und Erhal­ter Him­mels und der Erden, der ihm die Erklä­rung des ersten Glau­bens­ar­ti­kels so weise und gnädig vor­stellte, hatte sich, indem er die Gerech­ten mit den Unge­rech­ten glei­chem Ver­der­ben preis­gab, kei­nes­wegs väter­lich bewie­sen. Ver­ge­bens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Ein­drü­cke her­zu­stel­len, wel­ches über­haupt um so weni­ger mög­lich war, als die Weisen und Schrift­ge­lehr­ten selbst sich über die Art, wie man ein sol­ches Phä­no­men anzu­se­hen habe, sich nicht ver­ei­ni­gen konn­ten.« 13

Das Beben bil­dete eine tiefe Zäsur in der euro­päi­schen Geis­tes­ge­schichte. Die opti­mis­ti­sche Sicht, die der Phi­lo­soph und Uni­ver­sal­ge­lehrte Gott­fried Wil­helm Leib­niz (1646–1716) in die Worte »von der besten aller Welten« gefasst hatte, wich nüch­ter­ner Betrach­tung. Denn den­ken­den und reflek­tie­ren­den Men­schen war es offen­bar kaum oder gar nicht mehr mög­lich, die über Wort und Schrift behaup­tete All­mäch­tig­keit und Barm­her­zig­keit Gottes mit dem tat­säch­li­chen Gesche­hen und dem damit ver­bun­de­nen mensch­li­chen Leiden in Über­ein­stim­mung zu brin­gen. Zwei große Natur­ka­ta­stro­phen der jün­ge­ren Zeit, der Tsu­nami in Süd­ost­asien im Jahre 2004 und das Erd­be­ben in Kasch­mir im Jahre 2005, mit Hun­dert­tau­sen­den Toten, Mil­lio­nen Ver­letz­ten, zer­stör­ten Häu­sern und unter erbärm­li­chen Bedin­gun­gen dahin­ve­ge­tie­ren­den Men­schen, haben bei uns das Nach­den­ken über die Unver­ein­bar­keit der her­kömm­li­chen Got­tes­vor­stel­lung mit der beob­acht­ba­ren Wirk­lich­keit erneut auf­le­ben lassen. In den Fern­seh­be­rich­ten war zu sehen, wie völlig ver­störte kleine Kinder zwi­schen Trüm­mern und Lei­chen umher­irr­ten. Ihre Eltern waren in der Flut­welle umge­kom­men, sie selbst konn­ten noch nicht einmal ihren eige­nen Namen nennen. Wo ist der Gott, der angeb­lich die Kinder liebt? Inter­es­siert er sich über­haupt für das Gesche­hen auf dieser Erde? Oder könnte es sein, dass wir die völlig fal­schen Fragen stellen?

Und in der Tat stel­len sich Asia­ten, sofern sie nicht Chris­ten oder Mos­lems sind, son­dern Anhän­ger des Hin­du­is­mus, des Bud­dhis­mus, des Kon­fu­zia­nis­mus oder des Shin­to­is­mus, solche Fragen nicht. Wer keinen per­sön­li­chen bezie­hungs­weise per­so­na­len, dem Men­schen glei­chen­den Gott ver­ehrt, der gerecht und gütig ist, der straft und ver­gibt, der kann sich, wenn ihn das Schick­sal heim­sucht, auch nicht beschwe­ren oder gar auf­leh­nen. Einen Gott, der für das Gesche­hen im Leben ver­ant­wort­lich zu machen wäre oder der einem bei der Sinn­su­che helfen könnte, gibt es bei ihnen nicht. Das Leiden wird als unver­meid­li­ches Schick­sal angesehen.

Beim Bud­dhis­mus wird sogar Leben und Leiden gleich­ge­setzt, man kann dem Leiden zunächst nicht ent­flie­hen. Aber man kann dem Leiden ent­ge­gen­tre­ten, indem man dessen Ursa­chen und Folgen bekämpft und dadurch posi­ti­ves Karma ansam­melt. Durch genü­gend viel posi­ti­ves Karma, das man durch gute Werke erwirbt, besteht schließ­lich – so die Über­zeu­gung – die Mög­lich­keit der Selbst­er­lö­sung aus diesem durch Wie­der­ge­bur­ten gekenn­zeich­ne­ten Lei­dens­kreis­lauf. Der gläu­bige Moslem dage­gen betrach­tet sich als Allahs abso­lu­ten Unter­tan. Schick­sals­schläge wie Erd­be­ben oder Krank­hei­ten begreift er als obers­ten Willen, den es ähn­lich christ­li­cher Ein­stel­lung nicht in Frage zu stel­len gilt.

Anläss­lich der erwähn­ten Flut­ka­ta­stro­phe traten die damals höchs­ten Ver­tre­ter der beiden großen christ­li­chen Kir­chen Deutsch­lands, Kar­di­nal Leh­mann und Bischof Huber, am 9. Januar 2005 bei einem öku­me­ni­schen Gedenk­got­tes­dienst im Ber­li­ner Dom auf. Beide rangen in ihren Pre­dig­ten, rat- und hil­fe­su­chend gen Himmel bli­ckend, nach den hier noch mög­li­chen Worten. Kar­di­nal Leh­mann ver­glich das Tsu­nami-Unglück mit der Sint­flut der Bibel und erin­nerte an frü­here Natur­ka­ta­stro­phen, die Atom­bom­ben­ab­würfe, an Ausch­witz und den Holo­caust. »Es gibt eben unsäg­li­ches, durch und durch unver­ständ­li­ches Leid. Auch die Bibel kennt die Klage gegen Gott.« Als Christ finde er keine andere Ant­wort als den Blick auf das Kreuz Jesu. Und er fragte laut und ver­nehm­lich: »Gott, wo warst Du?«

Die Hilf­lo­sig­keit und die Bedrü­ckung, die aus den Worten des Kar­di­nals spra­chen, fielen mir auf. Sie hatten nichts mehr von jener selbst­si­che­ren, ja manch­mal selbst­herr­li­chen Gewiss­heit eines hohen kirch­li­chen Amts­trä­gers, der schon von Berufs wegen unbe­dingte Glau­bens­si­cher­heit aus­strah­len muss. Ich fand seine Äuße­run­gen bemer­kens­wert, weil sie in ihrer offen gezeig­ten Rat­lo­sig­keit auf mich auf­rich­tig und wahr­haf­tig wirk­ten. Ein ähn­lich bemer­kens­wer­tes Wort gibt es von Papst Johan­nes Paul II. anläss­lich einer Gene­ral­au­di­enz im Jahr 2002:

»Es gibt neben dem Schwert und dem Hunger eine noch grö­ßere Tra­gö­die, näm­lich die des Schwei­gens Gottes, der sich nicht mehr offen­bart und sich schein­bar in seinem Himmel ein­ge­schlos­sen hat, so als sei er des mensch­li­chen Tuns über­drüs­sig.« 14

Erd­be­ben wie das in Haiti 2010 mit über 300 000 Toten und ebenso vielen Ver­letz­ten oder das gewal­tige Beben von 2011, das mit dem Namen Fuku­shima ver­bun­den ist und »nur« etwa 20 000 Tote for­derte, aber infolge davon gewal­tige bau­li­che, land­schaft­li­che und öko­lo­gi­sche Schä­den und – wie immer bei sol­chen Kata­stro­phen – kaum zu hei­len­des mensch­li­ches Leid ver­ur­sachte, brin­gen die Kir­chen regel­mä­ßig in Erklä­rungs­nöte. Ihnen fällt dann meist nur ein, die Über­le­ben­den auf­zu­for­dern, für die Opfer zu beten. Aber wel­chen Sinn soll eine solche Anru­fung Gottes haben? Wenn man ihm offen­bar zutraut, den Getö­te­ten und Gequäl­ten Gnade und Hilfe zukom­men zu lassen, dann wäre es doch sehr viel naher­lie­gen­der, ihn darum zu bitten, solche Kata­stro­phen erst gar nicht ein­tre­ten zu lassen. Aber das traut man der Kraft der Gebete oder der Macht des ange­be­te­ten Gottes offen­bar nicht zu. Dass Chris­ten sich neben Gebe­ten aktiv an der Hilfe für in Not gera­tene Men­schen betei­li­gen, sei aus­drück­lich erklärt. Aber darin unter­schei­den sie sich nicht von ande­ren mit­füh­len­den Menschen.

4. Was andere denken und wie ich es sehe

Ende Sep­tem­ber 1997 erschüt­terte ein schwe­res Erd­be­ben die mit­tel­ita­lie­ni­sche Region Umbrien und ließ am Wir­kungs­ort des hei­li­gen Franz von Assisi die Dop­pel­kir­che San Fran­cesco des Fran­zis­ka­ner­klos­ters ein­stür­zen. Dabei wurden – wie die Tages­presse sei­ner­zeit ver­mel­dete – zwei betende Pries­ter von der her­ab­stür­zen­den Kir­chen­de­cke uner­war­tet und plötz­lich um ihr Leben gebracht. Ihre Fröm­mig­keit und ihr Beten halfen ihnen offen­bar nicht, sie wurden ihnen viel­mehr zum Ver­häng­nis, ver­gleich­bar dem Gesche­hen infolge des Erd­be­bens von Lis­sa­bon 1755, bei dem beson­ders viele Men­schen wäh­rend des Got­tes­diens­tes in den städ­ti­schen Kir­chen und Kathe­dra­len ums Leben kamen. Hört Gott die Gebete nicht oder will er sich in seinem auf All­wis­sen­heit und All­macht grün­den­den Han­deln nicht von den für ihn irrele­van­ten mensch­li­chen Moti­ven beein­flus­sen lassen?

Selbst Pries­ter und Bischöfe ver­las­sen sich, wenn sie zum Bei­spiel krank werden, nicht mehr nur auf das Beten, son­dern kon­sul­tie­ren Ärzte und lassen sich von moderns­ter medi­zi­ni­scher Wis­sen­schaft kurie­ren. Ja, sogar Papst Johan­nes Paul II. und »Stell­ver­tre­ter Gottes auf Erden«, der im Früh­jahr 2005 schwer erkrankte, nutzte bis zu seinem Able­ben mehr medi­zi­ni­sche Tech­nik, als ein nor­ma­ler Sterb­li­cher je zu sehen bekommt. Auf die welt­weit und mit größ­ter Inbrunst gespro­che­nen Gebete allein wollte man sich offen­bar nicht verlassen.

Chris­ten, über­haupt Gott­gläu­bige, glau­ben an die Kraft des Gebe­tes. Sie glau­ben, dass Gott sie erhört und sie bei­spiels­weise von einer tücki­schen Krank­heit heilen oder den Ver­lauf einer schwe­ren Ope­ra­tion güns­tig beein­flus­sen kann. Bei Ein­tre­ten des erfleh­ten Erfolgs ist zwar nicht fest­stell­bar, ob Gott hier hel­fend ein­ge­grif­fen hat, auf jeden Fall aber bestärkt es den Glau­ben an Gottes Mit­hilfe. Fast alles, was sich Men­schen erhof­fen können, wird Gott im Gebet vor­ge­tra­gen. Aller­dings betet man offen­sicht­lich nur in jenen Fällen, bei denen das erwünschte Ein­tre­ten des Erfolgs nach aller Lebens­er­fah­rung prin­zi­pi­ell mög­lich ist: bei der Hei­lung einer Lun­gen­ent­zün­dung, der Geburt eines gesun­den Kindes oder etwa der erfleh­ten Rück­kehr des gelieb­ten Lebens­part­ners. Das Nach­wach­sen eines infolge Krank­heit ampu­tier­ten Beines oder durch Unfall ver­lo­re­nen Auges oder gar das Wie­der­erwa­chen eines ver­stor­be­nen Kindes wird trotz der All­mäch­tig­keit, die man Gott attes­tiert, offen­bar nicht durch ein Gebet erhofft. Zu offen­kun­dig ist hier die Aus­sichts­lo­sig­keit eines Gebets erkenn­bar. Aus Wall­fahrts­stät­ten wie dem fran­zö­si­schen Lour­des ist von sol­chen Gebe­ten oder gar Hei­lun­gen auch noch nie berich­tet worden.

Und eine wei­tere ket­ze­ri­sche Frage kann ich in diesem Zusam­men­hang nicht unter­drü­cken: Wie groß ist eigent­lich das immer wieder beschwo­rene Gott­ver­trauen, wenn selbst der Papst als »Stell­ver­tre­ter Gottes« im Pan­zer­glas-geschütz­ten Papa­mo­bil her­um­fährt und zum Bei­spiel die Got­tes­häu­ser vor­sichts­hal­ber durch einen Blitz­ab­lei­ter geschützt werden?

Einem Gläu­bi­gen mögen diese letz­ten Zeilen got­tes­läs­ter­lich und ver­let­zend vor­kom­men. Aber es muss erlaubt sein, solche Fest­stel­lun­gen zu tref­fen. Ich frage mich ganz vor­ur­teils­frei und ohne jede belei­di­gende Absicht: Wann ist je den Bedräng­ten durch Beten Hilfe von oben gekom­men? Gebe­tet wurde und wird seit Men­schen­ge­den­ken in den Häu­sern mit Kran­ken und Ster­ben­den, auf den Schlacht­fel­dern der bis heute statt­fin­den­den Kriege, in Luft­schutz­kel­lern mit zu Tode ver­ängs­tig­ten Men­schen, in den großen Ver­nich­tungs­la­gern der Natio­nal­so­zia­lis­ten und Kom­mu­nis­ten, unter den Trüm­mern der durch Erd­be­ben zer­stör­ten Häuser. Wurden je die Schreie und Gebete in den Fol­ter­kel­lern der Inqui­si­tion oder aus den bren­nen­den Schei­ter­hau­fen erhört? Haben diese Men­schen etwa nicht inten­siv genug geglaubt, nicht instän­dig genug gebetet?

Worauf grün­den die Mil­lio­nen Gläu­bi­gen ihre Hoff­nung auf Erhö­ren ihrer Gebete, wenn man doch weiß, dass trotz ver­zwei­fel­ten Hof­fens und Fle­hens Men­schen in unfass­bar großer Anzahl durch Natur­ka­ta­stro­phen und Seu­chen ein viel zu frühes Ende fanden? Wel­chen Grund sollte ich haben, mit der Hilfe Gottes zu rech­nen, wenn er offen­bar unbe­tei­ligt zusah, wie Mil­lio­nen Juden in einen elen­den Gastod geschickt wurden? Auch sie rich­te­ten ihre von Todes­ängs­ten gezeich­ne­ten Blicke nach oben. Hat Gott dem Leiden der Men­schen nur inter­es­siert zuge­schaut? In Anbe­tracht der ihm zuge­schrie­be­nen All­mäch­tig­keit müsste man ihn eigent­lich wegen unter­las­se­ner Hil­fe­leis­tung anklagen.

Bei nüch­ter­ner Betrach­tung muss man fest­stel­len – ich bin jeden­falls über­zeugt davon – dass Hilfe, wenn sie denn ein­trifft, auch ohne Beten kommt, und zwar von ande­ren Men­schen oder durch Selbst­hilfe oder auf­grund zufäl­li­gen Gesche­hens. Zwar wird der Gläu­bige den ihm zuteil gewor­de­nen Bei­stand wieder als das Ein­grei­fen Gottes deuten. Den Beweis für seine Behaup­tung wird er natür­lich schul­dig blei­ben, so wie auch ich nicht bewei­sen könnte, dass Gott hier nicht seine Hand im Spiel gehabt hätte. Die Beweis­last für seine Behaup­tung trägt aller­dings der Gläu­bige. Denn ich kann das Gesche­hen auf natür­li­che Art erklä­ren, der Andere sieht darin das Wirken Gottes, der sich ledig­lich der natür­li­chen Mittel bedie­nen würde. Das aber ist eine über­flüs­sige und irra­tio­na­les Denken för­dernde Deu­tung. Wenn mein Auto stehen geblie­ben ist, viel­leicht wegen eines ver­stopf­ten Ver­ga­sers, dann hilft die Aus­sage, dass »der Teufel ins Auto gefah­ren sei« dem her­bei­ge­ru­fe­nen ADAC-Helfer auch nicht weiter.

Das bekannte, fast zynisch zu nen­nende Wort »Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott« bringt jeden­falls die Lebens­er­fah­rung zum Aus­druck, dass die schein­bar von Gott erhal­tene Hilfe nichts ande­res ist als das in der Not erfolgte selbst­tä­tige Ein­grei­fen. Dabei ist sicher­lich rich­tig, dass inten­si­ves und glau­ben­s­er­füll­tes Beten Kräfte mobi­li­sie­ren kann, die weit über das hin­aus­ge­hen können, was man sich selbst zuvor zutraute. Was dem Gläu­bi­gen dann wie Gottes Hilfe erscheint, stellt für den Nicht­gläu­bi­gen ein Phä­no­men dar, das sich schlicht psy­cho­lo­gisch erklä­ren lässt.

Aber viel­leicht ver­langt die soziale Natur des Men­schen ein­fach so inten­siv nach einem Part­ner, dass man ihn sich ein­fach nur vor­stel­len muss, um das Gefühl nach Nähe und Kom­mu­ni­ka­tion zu befrie­di­gen. Offen­sicht­lich lebt so manch Bedräng­ter in einer – wenn auch nur gedank­li­chen – Gemein­schaft leich­ter, hoff­nungs­vol­ler und erfüll­ter. Viele Men­schen brau­chen offen­bar ein all­mäch­ti­ges »Du«, dem sie ihre Wün­sche, Hoff­nun­gen, Ver­zweif­lung anver­trauen können. Es ist gut vor­stell­bar, dass Men­schen in see­li­scher Not in einer sol­chen ver­in­ner­lich­ten Bezie­hung ihren Trost finden.

»Gott lässt die Sonne auf­ge­hen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Unge­rechte.« Man könnte dieses Bibel­wort ergän­zen und sagen, er lässt Hilfe zuteil­wer­den den Beten­den und den nicht Beten­den. Was aber nichts ande­res bedeu­ten würde, als dass mein Blick nach oben keinen Ein­fluss darauf hat, wie Gott zu mir steht. Ich kann in keiner Weise erken­nen, ob meine Gebete erhört werden, ob mein Ver­hal­ten in irgend­ei­ner Weise von Gott bewer­tet wird. Zurück bleibt also die alte Rat­lo­sig­keit und Unge­wiss­heit dar­über, ob und wie­weit Gott in unser Leben ein­greift, ja, ob er über­haupt existiert.

Wenn Gott über die Eigen­schaft All­wis­sen­heit ver­fügt, dann wüsste er, wie schwer so viele Men­schen mit der Frage ringen, ob es ihn gibt und ob er sich für uns Men­schen inter­es­siert. Dann würde er erken­nen, wie ver­zwei­felt sie seine Ant­wort erfle­hen und wie sehr sie sich nach seiner beschüt­zen­den Hand sehnen. Die Kirche »weiß«, dass Gott uns geschaf­fen hat, dass er uns unend­lich liebt, dass er all­mäch­tig und all­wis­send ist, sie weiß angeb­lich, was Gott will, sie behaup­tet so viel von ihm zu wissen – warum er sich hier unten »auf Erden« so selten sehen lässt, dass er sich gera­dezu vor uns zu ver­ste­cken scheint, weiß sie offen­bar nicht.

Wenn wir Gott in seiner Uner­forsch­lich­keit und Rät­sel­haf­tig­keit mit unse­rem Ver­stand nicht erfas­sen und schon gar nicht uns seiner Exis­tenz ver­ge­wis­sern können, wäre es doch an ihm, sich uns zu offen­ba­ren. Aber in einer ver­ständ­li­chen und ein­deu­ti­gen Weise, nicht über offen­sicht­lich von Men­schen nie­der­ge­schrie­bene Texte wie die Bibel, den Koran, die Thora oder zum Bei­spiel die hin­du­is­ti­schen Veden. Diese angeb­lich gött­li­chen Offen­ba­run­gen haben alle ihre eige­nen, mit­ein­an­der nicht ver­träg­li­chen Auf­fas­sun­gen von Gott und der Welt, haben bis heute zu erbit­ter­ten reli­giö­sen Aus­ein­an­der­set­zun­gen und dem gegen­sei­ti­gen Abschlach­ten im Namen ihres jewei­li­gen Gottes geführt. Jede dieser Welt­re­li­gio­nen bean­sprucht, den wahren Gott anzubeten.

Wenn Gott ein Gott der Liebe und der Barm­her­zig­keit, ein Inbe­griff der Moral ist, dann müsste es ihm doch sehn­lichs­tes Anlie­gen sein, dem gegen­sei­ti­gen Ver­fol­gen und Umbrin­gen des jeweils Anders­gläu­bi­gen ein Ende zu berei­ten. Gelun­gen ist dies bisher nur den Men­schen selbst, und zwar vor allem den Gesell­schaf­ten, die sich durch Auf­klä­rung von der Vor­herr­schaft der Reli­gion befreien konn­ten. Gottes Wirken war dabei nicht zu erkennen.

Ist es denn zu viel erhofft, ist es kind­lich naiv oder zeugt es von völ­li­gem Miss­ver­ste­hen des Wesens Gottes, eine ein­deu­tige Bot­schaft von ihm zu erwar­ten? Wenn diesem Gott an den Men­schen und an der Welt so viel liegt, wie es uns seine Ver­tre­ter hier auf Erden täg­lich ver­kün­den, dann wäre eine Demons­tra­tion seiner Macht und seines Inter­es­ses an uns so unend­lich hilf­reich. Könnte er nicht ein wahres Wunder bewir­ken, also einen über­na­tür­li­chen, die Natur­ge­setze außer Kraft set­zen­den Ein­griff in das Natur­ge­sche­hen vor­neh­men? Zum Bei­spiel könnte er in einer welt­weit erkenn­ba­ren Schrift am Fir­ma­ment in der Spra­che eines jeden Men­schen auf seine Exis­tenz hin­wei­sen oder allen tech­ni­schen Unmög­lich­kei­ten trot­zend gleich­zei­tig auf allen Bild­schir­men dieser Welt erschei­nen. Früher nutzte Gott angeb­lich solche Wunder, um seine Macht und Herr­lich­keit zu demons­trie­ren. Die Bibel berich­tet von der spon­ta­nen Hei­lung Kran­ker und der Ver­wand­lung von Wasser in Wein, von der Auf­er­ste­hung von Jesus nach seinem Kreu­zes­tod und seiner spä­te­ren Him­mel­fahrt. Die katho­li­sche Kirche zum Bei­spiel ist noch heute von den über­na­tür­li­chen Erschei­nun­gen Marias in Lour­des und Fátima über­zeugt und sieht auch viele andere Wunder – im Sinne von »nicht natür­lich erklär­bar« – als erwie­sen an. Auch die ande­ren großen mono­the­is­ti­schen Glau­bens­sys­teme ver­wei­sen auf Wunder, um ihre Glaub­wür­dig­keit zu unterstreichen.

Ich sehe es aller­dings schon vor mir: das mit­lei­dige Lächeln von Gläu­bi­gen und Erleuch­te­ten ob meiner Nai­vi­tät und Ein­falt. Sie werden mir sagen, dass Gott sich so nicht her­aus­for­dern ließe. Nur meine frei­wil­lige Hin­wen­dung zum Glau­ben könne Erfolg haben, nur wenn ich mich ganz öffne und hin­gebe, wird er sich mir offen­ba­ren. Mit dem Offen­ba­ren ist das aller­dings so eine selt­same Sache. Die welt­weit zu allen Zeiten auf­ge­tre­te­nen Seher, Erleuch­te­ten und Pro­phe­ten oder sonst wie durch den Besitz angeb­lich gött­li­cher Wahr­hei­ten aus­ge­zeich­ne­ten Men­schen kamen – nicht zuletzt auf­grund ihrer unter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Prä­gun­gen – jeweils zu ganz ande­ren Ein­sich­ten und Vor­stel­lun­gen von Gott. Sie begrün­de­ten völlig unter­schied­li­che Reli­gio­nen, basie­rend auf sehr unter­schied­li­chen, angeb­lich durch Gott inspi­rier­ten Texten und bedin­gungs­los zu glau­ben­den hei­li­gen Sätzen. Natür­lich sahen sie in den ande­ren reli­giö­sen Über­zeu­gun­gen zu bekämp­fen­den Aber­glau­ben oder gar den Teufel am Werk. Die daraus ent­stan­de­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den Anhän­gern der jeweils »wahren« Reli­gion und aus deren Sicht jeweils Ungläu­bi­gen halten in voller Inten­si­tät bis heute an. Selbst inner­halb des Chris­ten­tums gibt es unzäh­lige, sich gegen­sei­tig nicht aner­ken­nende Vari­an­ten des rech­ten Weges zu Gott. Sollte der »wahre« Gott das so gewollt haben?

Die Tat­sa­che, dass Gott sich so wenig ein­deu­tig äußert und nur über fast belie­big inter­pre­tier­bare Zei­chen zu uns spricht und ansons­ten »schweigt und schweigt und schweigt« (Küng), ist für mich ein beson­ders schwer­wie­gen­des Argu­ment gegen die Annahme eines Gottes, der die Welt angeb­lich liebt und an uns inter­es­siert sei. Aber auch die Exis­tenz so vieler ver­schie­de­ner Reli­gio­nen mit je einer ande­ren Got­tes­vor­stel­lung, die daraus fol­gen­den über Jahr­tau­sende bis heute gegen­ein­an­der geführ­ten Glau­bens­kriege und das gleich­gül­tige Schwei­gen dieser Götter ange­sichts der in ihren Namen began­ge­nen, nicht mehr in Zahl und Maß fass­ba­ren Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit bilden für mich eine ebenso schwer­wie­gende Begrün­dung, dass es den uns sug­ge­rier­ten »lieben Gott« oder »barm­her­zi­gen Gott« nicht geben kann. Er ist schlicht und ein­fach eine gedank­li­che Kon­struk­tion, eine Wunsch­vor­stel­lung, ent­stan­den aus der tief emp­fun­de­nen Sehn­sucht der Men­schen nach Schutz, Hilfe, Trost und Ori­en­tie­rung, geför­dert durch eine den ande­ren in der Regel intel­lek­tu­ell über­le­gene Pries­ter­kaste, die darin seit Men­schen­ge­den­ken eine Mög­lich­keit für sich sah, Macht und Ein­fluss über andere Men­schen zu gewinnen.

Auch wenn es heute sicher sehr viele Pries­ter und Pfar­rer gibt – das­selbe gilt auch für andere Glau­bens­be­kennt­nisse – die aus voller Glau­bens­über­zeu­gung und mit allen ihren Kräf­ten ande­ren Men­schen in bewun­derns­wer­ter Weise Nächs­ten­liebe und Zuwen­dung ent­ge­gen­brin­gen und keine Macht­in­ter­es­sen mehr ver­fol­gen, an der Tat­sa­che, dass sie einer Illu­sion anhän­gen, ändert sich für mich dadurch nichts. Und dass Mil­lio­nen Men­schen aus dieser bloßen Wunsch­vor­stel­lung Mut und Zuver­sicht gewin­nen und ihnen Gott oft als letzte Ret­tung erscheint, bezwei­fele ich eben­falls nicht. Den­noch gilt für mich: Diese Art von Got­tes­glau­ben und die Bilanz meines Nach­den­kens über Gott und die Welt passen für mich nicht zusammen!

Was bin ich nun? Bin ich ein Athe­ist, der Gottes Exis­tenz strikt leug­net? Bin ich viel­leicht doch eher ein Agnos­ti­ker, also einer, der das Gött­li­che für uner­kenn­bar hält, aber dessen Exis­tenz nicht unbe­dingt verneint?

Als ein – hof­fent­lich – mit Ver­nunft begab­tes Wesen sehe ich mich nicht in der Lage, an den mir über unsere Kultur ver­mit­tel­ten »lieben Gott« zu glau­ben. Daher kann ich auch nicht die Vor­stel­lung haben, von dieser gött­li­chen Instanz der­einst erlöst zu werden. Wer einmal »vom Baum der Erkennt­nis« geges­sen hat, für den gibt es kein Zurück. Zu viele Wider­sprü­che zwi­schen ver­kün­de­ter Bot­schaft und erleb­ter Wirk­lich­keit, zwi­schen Glau­ben und Wissen tun meinem Ver­stand weh. Daher ist mein Nicht-Glaube nicht auch eine Art »Glaube«, wie gern unter­stellt wird, son­dern eher die Über­zeu­gung von der Nicht­exis­tenz eines sol­chen höhe­ren Wesens. Irgendwo las ich einmal die – zuge­ge­ben pole­misch klin­gende – Ansicht, Athe­is­mus als eine Art Glau­ben zu bezeich­nen, ent­sprä­che der Auf­fas­sung, dass Gesund­heit auch nur eine Art Krank­heit sei.

Ich frage mich: Wirkt es über­heb­lich, gar arro­gant, wenn ich meine, dass das Bekennt­nis zu einer als gott­frei gedach­ten Welt etwas mit phi­lo­so­phisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Bil­dung, mit intel­lek­tu­el­ler Red­lich­keit und per­sön­li­chem Mut zu tun hat?

Aber auch das weiß ich: Mein und unser aller Ver­stand ist begrenzt, vieles können wir nicht sehen, vieles nicht denken und begrei­fen, noch viel mehr nicht wissen, und wer weiß, wie viel wir nicht einmal erah­nen? Es wird der­einst Ant­wor­ten geben, zu denen wir heute noch nicht einmal die Fragen dazu haben. Die in der Unbe­greif­lich­keit der Rea­li­tät ver­bor­gene poten­zi­elle Per­spek­tive, in hun­dert Jahren viel­leicht über ganz andere Ein­sich­ten zu ver­fü­gen, sollte uns vor bloßen Behaup­tun­gen über »Gott und die Welt« bewahren.

So halte ich denn meinen Geist und meine Seele – so ich denn eine hätte – offen für Ein­sich­ten, die mir viel­leicht bisher ver­bor­gen geblie­ben sind. Der Christ und der Muslim freuen sich auf den Himmel, der ihnen der­einst unend­li­che Freu­den besche­ren wird. Ich bin da beschei­de­ner und freue mich dar­über, ein wenn auch win­zi­ger Teil des Uni­ver­sums zu sein, der sich vor­über­ge­hend als ein »Ich« emp­fin­den und sich dieses unbe­greif­li­chen Uni­ver­sums bewusst werden konnte. …