Leseprobe aus Kapitel VIII: Mein Credo – Warum ich kein Christ sein will

Mein »Credo«

Diese Reli­gion, diese ideo­lo­gi­sche Kon­struk­tion, bildet die Ursa­che einer unglaub­lich großen Zahl an Ver­bre­chen gegen die Mensch­heit, die stets im Namen des ange­be­te­ten Gottes erfolg­ten und die dieser angeb­lich barm­her­zige Gott doch nie ver­hin­dert hat. Auch wenn diese Reli­gion gleich­zei­tig sehr vielen Men­schen Trost, Hilfe und Lebens­sinn gege­ben hat und noch immer gibt, ist das für mich nicht im Gerings­ten ein Beleg für ihren Wahr­heits­ge­halt. Vor allem der mora­li­sche Gehalt großer Teile der Bibel bewegt sich weit unter­halb der durch Auf­klä­rung, Men­schen­rechts­er­klä­run­gen und staat­li­che Ver­fas­sun­gen, zum Bei­spiel die der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, gesetz­ten Stan­dards und wird daher von mir als Maß­stab meines Han­delns abge­lehnt. Ich emp­fand zeit­le­bens den Wider­spruch empö­rend zwi­schen der ver­kün­de­ten Lehre und der Jahr­tau­sende wäh­ren­den Praxis des Groß­teils der füh­ren­den Reprä­sen­tan­ten der Kirche. Ich sehe dabei gleich­zei­tig das mutige und auf­op­fe­rungs­volle Bemü­hen unzäh­li­ger Pfar­rer, Pfar­re­rin­nen und ande­rer über­zeug­ter Chris­ten, die dieser Lehre anhän­gen, dabei aber nicht selten auf die Stimme ihres Her­zens hörten und hören. Was ich etwas pathe­tisch als »Stimme des Her­zens« bezeichne, ist für mich das Ergeb­nis einer bio­lo­gi­schen, sozia­len und kul­tu­rel­len Evo­lu­tion. Im Zwei­fel ließen sie ihr Gefühl und ihre Ein­sicht spre­chen, statt den Wei­sun­gen von Bischö­fen und Päps­ten oder frag­wür­di­gen Gebo­ten hei­li­ger Texte zu folgen.

Ich möchte hier noch einmal fest­hal­ten: Mich trennt sehr viel von den intel­lek­tu­el­len Zumu­tun­gen des christ­li­chen Glau­bens und dem anma­ßen­den poli­ti­schen Anspruch der Kir­chen. Mich trennt schon sehr viel weni­ger von einem enga­gier­ten Kir­chen­mann, der Nächs­ten­liebe und Soli­da­ri­tät mit Schwa­chen und Benach­tei­lig­ten tat­säch­lich prak­ti­ziert. Denn je mehr ein Pfar­rer oder eine Pfar­re­rin sich um Men­schen in Bedräng­nis und Leid küm­mert, umso weni­ger hat er oder sie Zeit und Anlass, bibli­sche Legen­den zu ver­kün­den. Mich ver­bin­det viel mit einem ein­fa­chen Kir­chen­mit­glied, dessen Bekennt­nis zwar darin besteht, ganz all­ge­mein an Gott zu glau­ben, dessen Bemü­hen sich ansons­ten im Wesent­li­chen darin aus­drückt, ein »guter Christ« sein zu wollen, was aber meist nur heißt, dass er im wohl­mei­nen­den Sinn ein »guter Mensch« sein will – mit­füh­lend, hilfs­be­reit, aufrichtig.

Ich selbst ver­wende für mich den Begriff Athe­ist kaum, obwohl von meiner Auf­fas­sung her eine solche Bezeich­nung zutref­fend wäre. Den Begriff Huma­nist halte ich für ange­mes­se­ner und aus­sa­ge­kräf­ti­ger. Ich defi­niere meine Welt­an­schau­ung weni­ger durch Nega­tion einer Auf­fas­sung als viel­mehr posi­tiv durch Cha­rak­te­ri­sie­rung der Kom­po­nen­ten, die meine Welt­an­schau­ung beschrei­ben: ein natu­ra­lis­ti­sches Welt­bild, ein säku­lar begrün­de­tes Wer­te­sys­tem und eine strikte Dies­seits­ori­en­tie­rung. Sie sind das Ergeb­nis meines »ver­nunft­ge­lei­te­ten« Nach­den­kens und das vieler ande­rer Men­schen über die Welt und unsere Rolle darin. Ein per­sön­li­cher Gott und barm­her­zi­ger Wel­ten­len­ker kommt in meinem Welt­bild nicht vor, denn ich kann beim besten Willen die Grund­la­gen zu einem sol­chen Glau­ben nicht erken­nen. Der ame­ri­ka­ni­sche Poli­ti­ker Robert G. Inger­soll (1833–1899) hat diesen Zwie­spalt sehr tref­fend so auf den Punkt gebracht: »Wenn die Bibel und mein Ver­stand vom selben Schöp­fer stam­men, wessen Schuld ist es dann, dass sich die Bibel und mein Ver­stand ein­fach nicht ver­tra­gen können?« 3

Die Über­le­gen­heit einer natu­ra­lis­ti­schen Welt­sicht zeigt sich vor allem in der welt­wei­ten Gül­tig­keit ihrer Grund­la­gen. In jedem Land der Welt, unab­hän­gig von der jewei­li­gen Kultur, gilt die glei­che Physik und – wenn sie denn wis­sen­schaft­lich betrie­ben wird – auch die glei­che Bio­lo­gie. Diese welt­weite Gül­tig­keit kann man den zahl­lo­sen und grund­ver­schie­de­nen Lehren vom »rech­ten Weg zum See­len­heil« gewiss nicht zuspre­chen. Reli­gio­nen pre­di­gen den Men­schen, was sie denken sollen, die Wis­sen­schaf­ten, spe­zi­ell die Natur­wis­sen­schaf­ten zeigen den Men­schen, wie sie denken sollen, um zu wirk­lich­keits­ge­rech­ten und damit dem Men­schen dien­li­chen Erkennt­nis­sen zu gelangen.

Bei aller Pro­ble­ma­tik auch einer natur- (bzw. wirklichkeits-)wissenschaftlichen Ori­en­tie­rung unse­res Den­kens und Han­delns ist fest­zu­hal­ten, dass wir über keine ver­läss­li­chere Mög­lich­keit ver­fü­gen, uns diese Welt zu erklä­ren und so ein­zu­rich­ten, dass sie der­einst mal ein Ort werden könnte, der als bibli­sche Hoff­nung mit dem Begriff Para­dies bezeich­net wird. So uto­pisch dieser Gedanke uns heute auch erschei­nen mag – wenn der Sinn des Lebens darin gese­hen wird, »glück­lich zu werden und ande­ren ebenso zu Freude und Glück zu ver­hel­fen«, und wenn gleich­zei­tig »Leid und Schmerz von Mensch und Tier so weit wie mög­lich gemin­dert werden« – warum sollte nicht in ferner Zukunft diese Erde ein dies­sei­ti­ger »Garten Eden« sein können? Warum sollte es aus­ge­schlos­sen sein, dass im Dies­seits das wirk­lich wird, was die Reli­gion für ein angeb­li­ches Jen­seits nur ver­spricht? Allein moderne Land­wirt­schaft und Medi­zin haben hun­gern­den und kran­ken Men­schen mehr an realem »Trost« bieten können als Glaube und Kirche je vermochten.

Der phy­si­sche, psy­chi­sche und mora­li­sche Zustand unse­rer Gesell­schaft wäre mit Sicher­heit weit­aus befrie­di­gen­der, wenn die in der Summe unge­heu­ren geis­ti­gen Anstren­gun­gen unzäh­li­ger Theo­lo­gen, das angeb­li­che Wort Gottes, wie es in der Bibel nie­der­ge­legt ist, mit der Logik und der Wirk­lich­keit in Über­ein­stim­mung zu brin­gen, sich auf die Bewäl­ti­gung kon­kre­ter, die Men­schen tat­säch­lich bedrän­gen­der Pro­bleme gerich­tet hätten. Wel­chen Ertrag das intel­lek­tu­elle Ver­mö­gen eines Apos­tel Paulus, Thomas von Aquin oder etwa Martin Luther hätte erbrin­gen können, wenn sie ihre geis­ti­gen Ener­gien in die Lösung tat­säch­lich exis­tie­ren­der Nöte und Übel und nicht künst­lich geschaf­fe­ner theo­lo­gi­scher Pro­bleme inves­tiert hätten, kann man nur erah­nen. Ihr Ziel war des Men­schen Heil und sie beteu­er­ten, die Wahr­heit zu ver­kün­den. Leider haben sie ihre Talente an einem untaug­li­chen Objekt ent­fal­tet. Was würden wir ver­mis­sen, wenn es die Theo­lo­gie nicht gäbe?