Überlegungen zu einem alternativen Welt- und Menschenbild
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1. Was ist der Sinn des Lebens?
Die Frage nach dem Sinn allen Seins, nach dem Sinn dieses unseres Kosmos oder nach dem Sinn unseres individuellen Lebens hier auf Erden stellte sich im Rahmen der Überlegungen, die bisher in diesem Buch angestellt wurden, bereits wiederholt. Das so genannte anthropische Prinzip formuliert die These, der Sinn des Universums sei es letztlich, den Menschen als Gott erkennendes Wesen hervorzubringen. Im Rahmen der Evolutionstheorie stellte sich in ähnlicher Weise die Frage, ob diese ein vorgegebenes Ziel anstrebe und dieser seit Urzeiten währenden Entwicklung mit dem Erscheinen des Menschen einen krönenden Abschluss verleihe. Auch begegneten uns immer wieder die Fragen nach dem Woher und Wohin und dem Warum und Wozu unserer Existenz. Steht also hinter allem kosmischen und irdischen Geschehen eine dem Ganzen Sinn und Bedeutung gebende Instanz, von uns Gott genannt, oder projizieren wir in naiver und unbedachter Weise nur unsere traditionellen Denkmuster auf das Ganze, weil wir gewohnt sind, so zu denken?
Ich meine, dass wir uns eingestehen müssen, dass das Universum nicht teilnimmt an unserem Denken in den Kategorien von Sinn, Bedeutung, Absicht oder Ziel. Es sind Denkmuster, die wir entwickelt haben, um die uns umgebende Welt und die in ihr ablaufenden Prozesse ordnen, uns verständlich machen und deuten zu können. Besonders Vorgängen und Ereignissen, die wir nicht verstehen, versuchen wir eine Bedeutung, einen Sinn zu geben. Das Netz dieser deutenden Begriffe, mit denen wir unsere Welt strukturieren und vor allem interpretieren, existiert in unserem Kopf und nur dort. Diesen Begriffen entsprechen keine in der uns umgebenden Natur objektiv feststellbaren Eigenschaften oder Erscheinungen. Das Universum ist sinnfrei. Die Welt ist einfach da, voller Rätsel und von Zufällen durchwirkt, uns gegenüber von kalter Gleichgültigkeit.
Auch wenn Habermas vorschlägt, die Religionen als »Sinnressource« fruchtbar zu machen, so wird meines Erachtens dabei nicht viel mehr herauskommen als das Aufspüren eines vage empfundenen »metaphysischen Grundbedürfnisses«. Es ist das, was wir an anderer Stelle vorsichtig mit spiritueller Dimension bezeichnet haben, eine geistige Haltung, die sich Fragen zuwendet, die über uns hinausweisen, mit Themen wie der Endlichkeit der eigenen Existenz, Gefühlen des Einsseins mit der Natur, der Unbegreiflichkeit der Realität (»Warum ist etwas, und nicht vielmehr nichts?«), dem Sinn des Lebens.
Wenn die gott- und jenseitsorientierten Deutungsmuster der Religionen uns nicht mehr überzeugen können und wir andererseits vergeblich im Kosmos oder in der uns umgebenden Natur nach einem objektiven Sinn des Seins und unserer irdischen Existenz Ausschau halten, wer oder was hindert uns daran, unserem Leben selbst Sinn und Bedeutung zu geben? Denn wenn ein objektiver Sinn nicht gegeben oder nicht erkennbar ist, so kann ich doch für mich selbst auf vielerlei und individuelle Weise mein Leben einrichten und gestalten, so dass es mich erfüllt, mich zufrieden und vielleicht sogar glücklich macht und mir daher lebenswert erscheint. Dies eventuell in einer so unbekümmerten Art und Weise, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens sich gar nicht mehr stellt. So gesehen definierte sich der Sinn des Lebens von allein als das Leben selbst!
Aber vielleicht erscheint eine solche Sinngebung noch zu vordergründig, als dass sie überzeugend und beispielhaft wirken könnte. Ich möchte deshalb zunächst einmal darüber nachdenken, welche Sinngebungen ganz allgemein in Frage kommen könnten.
Ich denke, dass die meisten Menschen von dem Wunsch nach einer als erfüllt empfundenen Lebenspartnerschaft und dem Verlangen nach Nachkommenschaft geleitet werden. Dieses Bestreben hat insofern eine objektive Grundlage, als es unmittelbar aus der biologischen Natur des Menschen folgt. So gesehen besteht der Sinn des Lebens zunächst einmal darin, das Leben weiterzugeben. Über diesen »grundlegenden« biologischen Sinn des Lebens hinaus können Lebenssinn-Begründungen einmal in dem Wunsch nach Entfaltung der eigenen Person, in der Hinwendung zu anderen Menschen, im Studium von Welt und Natur, aber auch in einem diese Welt hinter sich lassenden Denken und Glauben gesehen werden.
Geht es einem Menschen mehr um die eigene Person, können beispielsweise Geld und Besitz, politische Macht, gesellschaftliches Ansehen oder wissenschaftliche Erkenntnisse das Ziel sein und damit zu Sinn und Inhalt des Lebens werden, konkretisiert zum Beispiel im Beruf als Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler oder etwa als Künstler. Eine andere Ausrichtung des Lebens kann in der unmittelbaren Hinwendung zu anderen Menschen liegen. Das kann die Familie sein, besonders die eigenen Kinder, in denen man sich selbst finden und weiter entwickelt sehen möchte. Das kann sich beispielsweise in dem Anliegen ausdrücken, eigenes Wissen und Können weniger entwickelten Regionen dieser Welt zur Verfügung zu stellen, oder zum Beispiel in dem Wunsch, mit medizinischem Wissen Krankheiten in Ländern mit mangelhafter ärztlicher Versorgung zu bekämpfen. Gerade ein medizinisches Studium kann vor allem von dem Willen getragen sein, zukünftig physisches und psychisches Leid lindern zu helfen. Diese Menschen empfinden ihr Leben als erfüllt und sinnhaltig, wenn es ihnen gelingt, ihr Leben leidmildernd in den Dienst anderer Menschen zu stellen.
Eine ganz andere Antwort auf die Frage nach einem sinnerfüllten Leben suchen jene Menschen, die sich vor allem der Natur und ihrer unendlichen Vielgestaltigkeit zuwenden oder in die Schriften großer Denker vertiefen und von dem Wunsch beseelt sind, für sich einen gedanklichen oder meditativen Weg zum Ursprung allen Seins zu finden, in dem aller Sinn verborgen sei. Eine über uns hinausweisende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens suchen auch die Menschen, die in religiösen Schriften auf Erkenntnis oder Erleuchtung hoffen. Sie glauben die Antwort, die ihrem Leben Sinn und Erfüllung geben könnte, nur aus einer jenseitigen Welt zu erhalten.
Man erkennt schon an diesen beispielhaft skizzierten Fällen, dass es wohl nicht den Sinn des Lebens »an sich« gibt, dass er sich vielmehr in sehr unterschiedlicher Weise realisieren kann: im sich selbst genügenden praktischen Lebensvollzug, in der Konzentration auf die Entwicklung der eigenen Person, in anderen Fällen vielleicht in einem direkten oder indirekten Einsatz für andere Menschen oder in einem der Welt und ihren Verlockungen entsagenden Vertiefen in philosophisches oder religiöses Denken. Auch wird es oft so sein, dass sich die Vorstellungen von einem mit Sinn und Bedeutung erfüllten Leben mit zunehmendem Alter wandeln. Steht am Anfang eines bewusst gestalteten Lebens die Entfaltung der eigenen Person im Vordergrund, verschiebt sich in späteren Lebensphasen aufgrund von Erfahrung oder gewachsener Einsicht oft der Schwerpunkt hin zu mehr Anteilnahme an anderen Menschen. Alle genannten Wege sind legitim. Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben so zu gestalten, dass er sich in möglichst großer Übereinstimmung mit seinen naturgegebenen Anlagen, seiner Erziehung, seinen Erfahrungen, Einsichten, Wünschen und Hoffnungen erleben kann, schließlich begreifen wir uns als selbstbestimmte Wesen. Vorausgesetzt dabei ist immer, dass wir die berechtigten Interessen und Bedürfnisse anderer respektieren.
Dabei nehmen selbstverständlich persönliches und kulturelles Umfeld in vielerlei Form auf die individuelle Lebensplanung Einfluss, nicht zuletzt deswegen, weil jeder Mensch auch nach Bestätigung in seinem Umfeld sucht. Die so genannte Glücksforschung kann in diesem Zusammenhang zeigen, dass Menschen, die nur nach Ruhm, Geld und Äußerlichkeiten streben, weniger glücklich sind als jene zum Beispiel, die ihrem Leben einen nicht-materiell orientierten Sinn zu geben verstehen. 1
Illustrieren möchte ich diesen mehr allgemeinen Überblick …
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2. Bekenntnis zu einem humanistischen Lebenskonzept
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Der hier skizzierte Humanismus versteht sich somit als eine weltliche Alternative zur Religion, als eine Weltsicht, die ohne Götter, Propheten und Priester auskommt, kein angeblich von einem Gott diktiertes heiliges Buch und keine Dogmen kennt, das Wissen über die Welt und den Menschen vor allem aus den Naturwissenschaften, den »Wirklichkeitswissenschaften«, gewinnt, sich von überkommenen, metaphysischen Moralvorstellungen löst, stattdessen ethische Normen an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen orientiert. Es ist deshalb der oft geäußerten Meinung zu widersprechen, dass der weltliche Humanismus oder der Atheismus auch nur eine Form des Glaubens sei, mitunter wird sogar von einem »religiösen Atheismus« gesprochen. Wenn zum Wesen einer Religion die Annahme einer jenseitigen Instanz gehört, die in irgendeiner Weise auf mein Leben Einfluss nimmt, dann ist es unsinnig und unlogisch, auch dem weltlichen Humanismus oder dem Atheismus religiöse Züge zuzusprechen oder diesen als einen »Glauben« zu bezeichnen.
Helmut Fink (*1965) schreibt in »Der neue Humanismus – Wissenschaftliches Menschenbild und säkulare Ethik«: »Der alte Humanismus konnte noch als ›christlicher Humanismus‹ verstanden und gelebt werden. Der neue Humanismus ist weltlich. … Der alte Humanismus konnte noch rein geisteswissenschaftlich betrieben werden. Der neue Humanismus ist naturalistisch.« Und weiter sagt er: »Der neue Humanismus grenzt sich gegenüber dem neuen Atheismus bewusst konzeptionell ab: Atheismus ist eine bloße Negativaussage. … Weltanschauliche Fragen brauchen positive Antworten. Es gibt die Welt. Und es gibt den Menschen und seine Anlagen, sein Verhalten und seine Vorstellungen und Ziele, seine Bedürfnisse und Interessen. Es gibt nichtreligiöse Sinnsuche (oder präziser: nichtreligiöse Sinnkonstruktionsbedürfnisse) und es gibt religionsfreies Kulturschaffen. Der Mensch braucht für seine Orientierung im Leben positive Werte und Ethik, und hierfür bleibt der (säkulare) Humanismus ein unverzichtbarer Ideenfundus und Kulturbestand. Der neue Atheismus alleine kann in weltanschaulicher Hinsicht nicht befriedigen. Der neue Atheismus ist eine Absage an Gott. Der neue Humanismus ist eine Zusage an den Menschen.« (Kursivdruck im Original) 8
Dieser »Neue Humanismus« besteht vereinfacht gesagt aus drei Komponenten: Aus einem naturalistischen Weltbild, einem säkularen Wertesystem und einer strikten Diesseitsorientierung. Für mich persönlich würde ich mein humanistisches Bekenntnis wie folgt beschreiben, und ich denke, dass sich sehr viele meiner humanistischen Freunde dieser Sicht anschließen können.
Erstens: Ich betrachte das, was die heutigen Naturwissenschaften, die Wissenschaften von der Wirklichkeit, als derzeit gesicherte Erkenntnis ansehen, für mich zunächst einmal als maßgebend für alle weiteren Überlegungen. Vor allem ist es die rationale, logische und systematische Denkweise der heutigen Naturwissenschaften und ihre empirische Verankerung, die ich mir zum Vorbild genommen habe. Nach meiner Überzeugung bilden rational-logisches Denken und naturwissenschaftlich erarbeitetes Wissen die sicherste und intellektuell befriedigendste Basis für unser Denken und Handeln. Denn worüber man nichts Begründetes sagen kann, kann man allenfalls spekulieren. Sich seines Denkvermögens zu bedienen, heißt deshalb für mich, nichts zu »glauben«, was dem Verstand und wissenschaftlicher Erkenntnis eindeutig widerspricht. Ich bin höchst skeptisch allem gegenüber, was für sich Gültigkeit, ja Wahrheit beansprucht, ohne dafür wenigstens plausible Gründe angeben zu können. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Wissenschaft heute noch vieles nicht erklären kann, und dass unser Wissen vielleicht niemals vollständig sein wird.
Zweitens: Ein säkulares Wertesystem kennt statt einer göttlich gestifteten Moral eine vernunftbasierte Ethik. Die Jahrtausende alte Regel »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« stellt eigentlich schon ein umfassendes Gebot friedlichen Zusammenlebens dar. Es gilt vor allem, deswegen Gutes zu tun, weil es gut ist, nicht weil eine Gottheit ganz hoch oben Belohnung verspricht. Ein säkulares Wertesystem orientiert seine Normen und Regeln an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen. Der Mensch setzt also die Norm, nicht eine unsichtbare Gottheit über uns. Dieses säkulare Wertesystem hat evolutionär entstandene Wurzeln und artikuliert sich heute in humanistischen Grundsätzen und allgemein anerkannten Menschenrechten wie Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, wohlüberlegte Toleranz, zum Beispiel gegenüber einem privat gelebten Glauben. Im Zentrum meines humanistischen Konzepts steht jedenfalls die Aussage, die in den Ohren gottgläubiger Menschen wie eine Provokation klingen mag, dass letztlich Menschen vereinbaren und festlegen, was gut oder schlecht, was erstrebenswert oder abzulehnen sei. Da Menschen naturgemäß unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben, sollte das Prinzip des fairen Interessenausgleichs gelten. Das bedeutet, dass man sich um der Gerechtigkeit und des sozialen Friedens willen immer zu fragen hat: Was ist gleichermaßen gut und akzeptabel für alle Betroffenen.
Und drittens: Meine strikte Diesseitsorientierung basiert auf der Einsicht, dass ich höchstwahrscheinlich nur dieses eine Leben habe. Folglich sollte ich versuchen, das Bestmögliche aus meinem Leben zu machen. Dieses Streben nach Erfüllung meines Lebens muss aber immer auch den Mitmenschen im Blick haben, der ebenso glücklich werden will. Deshalb gelingt ein erfülltes Leben vermutlich am besten dadurch, dass man sich gesellschaftlich engagiert, sei es im politischen, im humanitären, vielleicht im künstlerischen Bereich. Und schließlich: Wer sich bemüht hat und wem es gelungen ist, auf ein erfülltes, glückliches Leben zurückblicken zu können, dem wird es leichter fallen, von dieser Lebensbühne wieder abzutreten.
Aber es gibt noch einen Punkt, den ich hier ansprechen will. Einer naturalistischen Weltanschauung wird gern »emotionale Armut« vorgeworfen, eine »reduzierte Wirklichkeitswahrnehmung« oder »Blindheit gegenüber den seelischen Bedürfnissen eines Menschen, der sich in existenzieller Not befindet«. Diese Vorwürfe sind nicht ganz unberechtigt. Wer Religionen ablehnend gegenübersteht, auch die Idee eines Jenseits verwirft, meidet eher das Nachdenken über Themen, die den Alltag »transzendieren«, Fragen, die sozusagen die »letzten Dinge« betreffen. Denn Nichtgläubige haben die Sorge, wie gehabt, wieder in irrationales oder esoterisches Fahrwasser zu geraten.
Dennoch befassen sich auch Nichtgläubige mit Fragen, die jenseits der rationalen Bewältigung des Alltags liegen. Auch Nichtgläubige denken – wie erwähnt – über den Urgrund allen Seins nach, über die Unbegreiflichkeit der Realität, kennen Gefühle des Einssein mit der Natur, bedenken das eigene Ende. Solche Themen sprechen – wie man sagen könnte – eine spirituelle Dimension an. Das Thema Spiritualität wird von vielen Nichtgläubigen inzwischen, wenn auch mit großer Zurückhaltung, als eine den Blick auf das Dasein erweiternde, wenn nicht bereichernde Dimension wahrgenommen. Dies umso mehr, je weniger solche Vorstellungen und Gedanken heutiger Philosophie und Wissenschaft widersprechen.
Bei dem Gedanken an die Endlichkeit der eigenen Existenz allerdings bietet die Verheißung auf ein Weiterleben im Jenseits einem Nichtgläubigen keinen Trost. Zu offenkundig ist dieses religiöse Versprechen für ihn bloßes Wunschdenken. Ein Humanist im oben beschriebenen Sinne wird ohne das Versprechen eines ewigen Lebens daher mehr Mut und Kraft aufbringen müssen. Dies wird ihm leichter gelingen, wenn er mit Einsicht und Gelassenheit akzeptiert hat, dass die Natur uns Menschen nur einen einmaligen und flüchtigen Auftritt auf diesem Planeten gewährt. 9
Der Christ wiederum wird auf das ihm versprochene ewige Leben verweisen und darin am Lebensende seinen Trost finden, jedenfalls ist dieses Versprechen essenzieller Teil seines Glaubensbekenntnisses. Ich kann jedoch diese Verheißung nur als Illusion ansehen, geboren aus dem brennenden Wunsch nach Weiterleben. Denn ist es wirklich so, dass ein Christ am Ende seines Lebens tatsächlich Trost im Glauben findet? Die Angehörigen sind zutiefst erschüttert, viele hadern mit Gott und zweifeln an dessen Güte. Warum diese unendliche Trauer, wenn doch bei christlicher Lebensführung das Paradies winkt? Zumindest ein alter, aber gottesfürchtiger Mensch müsste bei seinem Ableben eigentlich von seinen Verwandten und Freunden beneidet werden. Geht er doch Gott entgegen. Warum diese tiefe Trauer?
Mein Denken ist deshalb ein anderes. Ein Mensch, der schon als Kind behutsam zu der Einsicht geführt wird, dass der Tod zum Leben gehört, dass der Tod das natürliche Ende eines Lebens ist, dass es wohl keinen gütigen Gott über ihm gibt, dass er aber auch nicht vor den Zufälligkeiten des Lebens geschützt ist, wie Krankheiten oder Unfällen etwa. Ein Mensch, dem frühzeitig bewusst wird, dass er nur dieses eine Leben hat und dass er den Sinn seines Lebens nur hier auf Erden finden kann, wird ein anderes Leben führen als ein Christ. Er wird sich bemühen, viel konsequenter sein Leben so zu gestalten, dass er positive Spuren hinterlässt: Kinder und Enkel, ein Haus oder etwa ein berühmtes Bauwerk, eine das Leben erleichternde Erfindung, eine politische Leistung, die vielen Menschen Frieden und Wohlstand brachte – irgendeine persönliche Leistung, auf die er mit Genugtuung oder gar Stolz schauen kann. Wenn ihm so etwas gelungen ist und er vielleicht dank Medizin ein langes Leben hatte, kann er ruhig und gefasst von dieser Lebensbühne abtreten. Viele glaubensfreie Menschen haben an ihrem Lebensende gezeigt, welche Stärke und Gelassenheit sie aus einer so gereiften Einstellung zum Leben und dessen Ende beziehen, welcher innere Friede sie erfasst hat, wenn sie – ja, so möchte ich es formulieren – keine falsche Hoffnung mehr hegen. Ich denke, »wer sein Feld bestellt hat«, wird am Ende auch loslassen können, ohne Verzweiflung und ohne Angst vor dem Tod.
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Was aber sage ich einem noch jungen Menschen, dem eine tückische Krankheit das Leben nimmt? Es fällt mir schwer, hierauf eine tröstende Antwort zu finden. Aber was kann ein gläubiger Christ dazu sagen? Überzeugt und tröstet sein Hinweis auf Auferstehung und ewiges Leben einen Menschen von heute noch? Das gern verdrängte, unheilschwangere Wort vom Schicksal erinnert daran, dass wir eben nicht alles in der Hand haben. Philosophie, Soziologie, auch die Evolutionstheorie, bezeichnen diese prinzipielle Offenheit der Zukunft, dieses nicht plan- und vorhersehbare Geschehen und die damit verbundene Ungewissheit mit dem abstrakten Begriff Kontingenz. Diese hat mit Zufall und Unberechenbarkeit zu tun. Die Theologen verweisen hier auf Gottes unerforschlichen Willen und trösten mit Verheißungen und verweisen auf das Paradies. Die Naturwissenschaften und die aus ihr hervorgegangenen Technologien bieten insofern Trost und Hoffnung, als sie inzwischen wesentliche, Not wendende Beiträge zur Bekämpfung von Hunger, von Schmerzen, von Krankheiten und zur Bändigung von Naturkatastrophen vorweisen können und zukünftig wohl auch für derzeit noch nicht beherrschbares Leid. Dort, wo die Religionen noch die Lebensverhältnisse bestimmen, lebt die weit überwiegende Zahl der Menschen hinsichtlich ihrer Lebensqualität noch im Mittelalter. …