Leseproben aus Kapitel VII: Überlegungen zu einem alternativen Welt- und Menschenbild


Überlegungen zu einem alternativen Welt- und Menschenbild 

1. Was ist der Sinn des Lebens?

Die Frage nach dem Sinn allen Seins, nach dem Sinn dieses unse­res Kosmos oder nach dem Sinn unse­res indi­vi­du­el­len Lebens hier auf Erden stellte sich im Rahmen der Über­le­gun­gen, die bisher in diesem Buch ange­stellt wurden, bereits wie­der­holt. Das so genannte anthro­pi­sche Prin­zip for­mu­liert die These, der Sinn des Uni­ver­sums sei es letzt­lich, den Men­schen als Gott erken­nen­des Wesen her­vor­zu­brin­gen. Im Rahmen der Evo­lu­ti­ons­theo­rie stellte sich in ähn­li­cher Weise die Frage, ob diese ein vor­ge­ge­be­nes Ziel anstrebe und dieser seit Urzei­ten wäh­ren­den Ent­wick­lung mit dem Erschei­nen des Men­schen einen krö­nen­den Abschluss ver­leihe. Auch begeg­ne­ten uns immer wieder die Fragen nach dem Woher und Wohin und dem Warum und Wozu unse­rer Exis­tenz. Steht also hinter allem kos­mi­schen und irdi­schen Gesche­hen eine dem Ganzen Sinn und Bedeu­tung gebende Instanz, von uns Gott genannt, oder pro­ji­zie­ren wir in naiver und unbe­dach­ter Weise nur unsere tra­di­tio­nel­len Denk­mus­ter auf das Ganze, weil wir gewohnt sind, so zu denken?

Ich meine, dass wir uns ein­ge­ste­hen müssen, dass das Uni­ver­sum nicht teil­nimmt an unse­rem Denken in den Kate­go­rien von Sinn, Bedeu­tung, Absicht oder Ziel. Es sind Denk­mus­ter, die wir ent­wi­ckelt haben, um die uns umge­bende Welt und die in ihr ablau­fen­den Pro­zesse ordnen, uns ver­ständ­lich machen und deuten zu können. Beson­ders Vor­gän­gen und Ereig­nis­sen, die wir nicht ver­ste­hen, ver­su­chen wir eine Bedeu­tung, einen Sinn zu geben. Das Netz dieser deu­ten­den Begriffe, mit denen wir unsere Welt struk­tu­rie­ren und vor allem inter­pre­tie­ren, exis­tiert in unse­rem Kopf und nur dort. Diesen Begrif­fen ent­spre­chen keine in der uns umge­ben­den Natur objek­tiv fest­stell­ba­ren Eigen­schaf­ten oder Erschei­nun­gen. Das Uni­ver­sum ist sinn­frei. Die Welt ist ein­fach da, voller Rätsel und von Zufäl­len durch­wirkt, uns gegen­über von kalter Gleichgültigkeit.

Auch wenn Haber­mas vor­schlägt, die Reli­gio­nen als »Sinn­res­source« frucht­bar zu machen, so wird meines Erach­tens dabei nicht viel mehr her­aus­kom­men als das Auf­spü­ren eines vage emp­fun­de­nen »meta­phy­si­schen Grund­be­dürf­nis­ses«. Es ist das, was wir an ande­rer Stelle vor­sich­tig mit spi­ri­tu­el­ler Dimen­sion bezeich­net haben, eine geis­tige Hal­tung, die sich Fragen zuwen­det, die über uns hin­aus­wei­sen, mit Themen wie der End­lich­keit der eige­nen Exis­tenz, Gefüh­len des Eins­seins mit der Natur, der Unbe­greif­lich­keit der Rea­li­tät (»Warum ist etwas, und nicht viel­mehr nichts?«), dem Sinn des Lebens.

Wenn die gott- und jen­seits­ori­en­tier­ten Deu­tungs­mus­ter der Reli­gio­nen uns nicht mehr über­zeu­gen können und wir ande­rer­seits ver­geb­lich im Kosmos oder in der uns umge­ben­den Natur nach einem objek­ti­ven Sinn des Seins und unse­rer irdi­schen Exis­tenz Aus­schau halten, wer oder was hin­dert uns daran, unse­rem Leben selbst Sinn und Bedeu­tung zu geben? Denn wenn ein objek­ti­ver Sinn nicht gege­ben oder nicht erkenn­bar ist, so kann ich doch für mich selbst auf vie­ler­lei und indi­vi­du­elle Weise mein Leben ein­rich­ten und gestal­ten, so dass es mich erfüllt, mich zufrie­den und viel­leicht sogar glück­lich macht und mir daher lebens­wert erscheint. Dies even­tu­ell in einer so unbe­küm­mer­ten Art und Weise, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens sich gar nicht mehr stellt. So gese­hen defi­nierte sich der Sinn des Lebens von allein als das Leben selbst!

Aber viel­leicht erscheint eine solche Sinn­ge­bung noch zu vor­der­grün­dig, als dass sie über­zeu­gend und bei­spiel­haft wirken könnte. Ich möchte des­halb zunächst einmal dar­über nach­den­ken, welche Sinn­ge­bun­gen ganz all­ge­mein in Frage kommen könnten.

Ich denke, dass die meis­ten Men­schen von dem Wunsch nach einer als erfüllt emp­fun­de­nen Lebens­part­ner­schaft und dem Ver­lan­gen nach Nach­kom­men­schaft gelei­tet werden. Dieses Bestre­ben hat inso­fern eine objek­tive Grund­lage, als es unmit­tel­bar aus der bio­lo­gi­schen Natur des Men­schen folgt. So gese­hen besteht der Sinn des Lebens zunächst einmal darin, das Leben wei­ter­zu­ge­ben. Über diesen »grund­le­gen­den« bio­lo­gi­schen Sinn des Lebens hinaus können Lebens­sinn-Begrün­dun­gen einmal in dem Wunsch nach Ent­fal­tung der eige­nen Person, in der Hin­wen­dung zu ande­ren Men­schen, im Stu­dium von Welt und Natur, aber auch in einem diese Welt hinter sich las­sen­den Denken und Glau­ben gese­hen werden.

Geht es einem Men­schen mehr um die eigene Person, können bei­spiels­weise Geld und Besitz, poli­ti­sche Macht, gesell­schaft­li­ches Anse­hen oder wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nisse das Ziel sein und damit zu Sinn und Inhalt des Lebens werden, kon­kre­ti­siert zum Bei­spiel im Beruf als Unter­neh­mer, Poli­ti­ker, Wis­sen­schaft­ler oder etwa als Künst­ler. Eine andere Aus­rich­tung des Lebens kann in der unmit­tel­ba­ren Hin­wen­dung zu ande­ren Men­schen liegen. Das kann die Fami­lie sein, beson­ders die eige­nen Kinder, in denen man sich selbst finden und weiter ent­wi­ckelt sehen möchte. Das kann sich bei­spiels­weise in dem Anlie­gen aus­drü­cken, eige­nes Wissen und Können weni­ger ent­wi­ckel­ten Regio­nen dieser Welt zur Ver­fü­gung zu stel­len, oder zum Bei­spiel in dem Wunsch, mit medi­zi­ni­schem Wissen Krank­hei­ten in Län­dern mit man­gel­haf­ter ärzt­li­cher Ver­sor­gung zu bekämp­fen. Gerade ein medi­zi­ni­sches Stu­dium kann vor allem von dem Willen getra­gen sein, zukünf­tig phy­si­sches und psy­chi­sches Leid lin­dern zu helfen. Diese Men­schen emp­fin­den ihr Leben als erfüllt und sinn­hal­tig, wenn es ihnen gelingt, ihr Leben leid­mil­dernd in den Dienst ande­rer Men­schen zu stellen.

Eine ganz andere Ant­wort auf die Frage nach einem sinn­erfüll­ten Leben suchen jene Men­schen, die sich vor allem der Natur und ihrer unend­li­chen Viel­ge­stal­tig­keit zuwen­den oder in die Schrif­ten großer Denker ver­tie­fen und von dem Wunsch beseelt sind, für sich einen gedank­li­chen oder medi­ta­ti­ven Weg zum Ursprung allen Seins zu finden, in dem aller Sinn ver­bor­gen sei. Eine über uns hin­aus­wei­sende Ant­wort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens suchen auch die Men­schen, die in reli­giö­sen Schrif­ten auf Erkennt­nis oder Erleuch­tung hoffen. Sie glau­ben die Ant­wort, die ihrem Leben Sinn und Erfül­lung geben könnte, nur aus einer jen­sei­ti­gen Welt zu erhalten.

Man erkennt schon an diesen bei­spiel­haft skiz­zier­ten Fällen, dass es wohl nicht den Sinn des Lebens »an sich« gibt, dass er sich viel­mehr in sehr unter­schied­li­cher Weise rea­li­sie­ren kann: im sich selbst genü­gen­den prak­ti­schen Lebens­voll­zug, in der Kon­zen­tra­tion auf die Ent­wick­lung der eige­nen Person, in ande­ren Fällen viel­leicht in einem direk­ten oder indi­rek­ten Ein­satz für andere Men­schen oder in einem der Welt und ihren Ver­lo­ckun­gen ent­sa­gen­den Ver­tie­fen in phi­lo­so­phi­sches oder reli­giö­ses Denken. Auch wird es oft so sein, dass sich die Vor­stel­lun­gen von einem mit Sinn und Bedeu­tung erfüll­ten Leben mit zuneh­men­dem Alter wan­deln. Steht am Anfang eines bewusst gestal­te­ten Lebens die Ent­fal­tung der eige­nen Person im Vor­der­grund, ver­schiebt sich in spä­te­ren Lebens­pha­sen auf­grund von Erfah­rung oder gewach­se­ner Ein­sicht oft der Schwer­punkt hin zu mehr Anteil­nahme an ande­ren Men­schen. Alle genann­ten Wege sind legi­tim. Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben so zu gestal­ten, dass er sich in mög­lichst großer Über­ein­stim­mung mit seinen natur­ge­ge­be­nen Anla­gen, seiner Erzie­hung, seinen Erfah­run­gen, Ein­sich­ten, Wün­schen und Hoff­nun­gen erle­ben kann, schließ­lich begrei­fen wir uns als selbst­be­stimmte Wesen. Vor­aus­ge­setzt dabei ist immer, dass wir die berech­tig­ten Inter­es­sen und Bedürf­nisse ande­rer respektieren.

Dabei nehmen selbst­ver­ständ­lich per­sön­li­ches und kul­tu­rel­les Umfeld in vie­ler­lei Form auf die indi­vi­du­elle Lebens­pla­nung Ein­fluss, nicht zuletzt des­we­gen, weil jeder Mensch auch nach Bestä­ti­gung in seinem Umfeld sucht. Die so genannte Glücks­for­schung kann in diesem Zusam­men­hang zeigen, dass Men­schen, die nur nach Ruhm, Geld und Äußer­lich­kei­ten stre­ben, weni­ger glück­lich sind als jene zum Bei­spiel, die ihrem Leben einen nicht-mate­ri­ell ori­en­tier­ten Sinn zu geben ver­ste­hen. 1

Illus­trie­ren möchte ich diesen mehr all­ge­mei­nen Überblick …

2. Bekennt­nis zu einem huma­nis­ti­schen Lebenskonzept

Der hier skiz­zierte Huma­nis­mus ver­steht sich somit als eine welt­li­che Alter­na­tive zur Reli­gion, als eine Welt­sicht, die ohne Götter, Pro­phe­ten und Pries­ter aus­kommt, kein angeb­lich von einem Gott dik­tier­tes hei­li­ges Buch und keine Dogmen kennt, das Wissen über die Welt und den Men­schen vor allem aus den Natur­wis­sen­schaf­ten, den »Wirk­lich­keits­wis­sen­schaf­ten«, gewinnt, sich von über­kom­me­nen, meta­phy­si­schen Moral­vor­stel­lun­gen löst, statt­des­sen ethi­sche Normen an den fun­da­men­ta­len Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Men­schen ori­en­tiert. Es ist des­halb der oft geäu­ßer­ten Mei­nung zu wider­spre­chen, dass der welt­li­che Huma­nis­mus oder der Athe­is­mus auch nur eine Form des Glau­bens sei, mit­un­ter wird sogar von einem »reli­giö­sen Athe­is­mus« gespro­chen. Wenn zum Wesen einer Reli­gion die Annahme einer jen­sei­ti­gen Instanz gehört, die in irgend­ei­ner Weise auf mein Leben Ein­fluss nimmt, dann ist es unsin­nig und unlo­gisch, auch dem welt­li­chen Huma­nis­mus oder dem Athe­is­mus reli­giöse Züge zuzu­spre­chen oder diesen als einen »Glau­ben« zu bezeichnen.

Helmut Fink (*1965) schreibt in »Der neue Huma­nis­mus – Wis­sen­schaft­li­ches Men­schen­bild und säku­lare Ethik«: »Der alte Huma­nis­mus konnte noch als ›christ­li­cher Huma­nis­mus‹ ver­stan­den und gelebt werden. Der neue Huma­nis­mus ist welt­lich. … Der alte Huma­nis­mus konnte noch rein geis­tes­wis­sen­schaft­lich betrie­ben werden. Der neue Huma­nis­mus ist natu­ra­lis­tisch.« Und weiter sagt er: »Der neue Huma­nis­mus grenzt sich gegen­über dem neuen Athe­is­mus bewusst kon­zep­tio­nell ab: Athe­is­mus ist eine bloße Nega­tiv­aus­sage. … Welt­an­schau­li­che Fragen brau­chen posi­tive Ant­wor­ten. Es gibt die Welt. Und es gibt den Men­schen und seine Anla­gen, sein Ver­hal­ten und seine Vor­stel­lun­gen und Ziele, seine Bedürf­nisse und Inter­es­sen. Es gibt nicht­re­li­giöse Sinn­su­che (oder prä­zi­ser: nicht­re­li­giöse Sinn­kon­struk­ti­ons­be­dürf­nisse) und es gibt reli­gi­ons­freies Kul­tur­schaf­fen. Der Mensch braucht für seine Ori­en­tie­rung im Leben posi­tive Werte und Ethik, und hier­für bleibt der (säku­lare) Huma­nis­mus ein unver­zicht­ba­rer Ideenf­un­dus und Kul­tur­be­stand. Der neue Athe­is­mus alleine kann in welt­an­schau­li­cher Hin­sicht nicht befrie­di­gen. Der neue Athe­is­mus ist eine Absage an Gott. Der neue Huma­nis­mus ist eine Zusage an den Men­schen.« (Kur­siv­druck im Ori­gi­nal) 8

Dieser »Neue Huma­nis­mus« besteht ver­ein­facht gesagt aus drei Kom­po­nen­ten: Aus einem natu­ra­lis­ti­schen Welt­bild, einem säku­la­ren Wer­te­sys­tem und einer strik­ten Dies­seits­ori­en­tie­rung. Für mich per­sön­lich würde ich mein huma­nis­ti­sches Bekennt­nis wie folgt beschrei­ben, und ich denke, dass sich sehr viele meiner huma­nis­ti­schen Freunde dieser Sicht anschlie­ßen können.

Ers­tens: Ich betrachte das, was die heu­ti­gen Natur­wis­sen­schaf­ten, die Wis­sen­schaf­ten von der Wirk­lich­keit, als der­zeit gesi­cherte Erkennt­nis anse­hen, für mich zunächst einmal als maß­ge­bend für alle wei­te­ren Über­le­gun­gen. Vor allem ist es die ratio­nale, logi­sche und sys­te­ma­ti­sche Denk­weise der heu­ti­gen Natur­wis­sen­schaf­ten und ihre empi­ri­sche Ver­an­ke­rung, die ich mir zum Vor­bild genom­men habe. Nach meiner Über­zeu­gung bilden ratio­nal-logi­sches Denken und natur­wis­sen­schaft­lich erar­bei­te­tes Wissen die sicherste und intel­lek­tu­ell befrie­di­gendste Basis für unser Denken und Han­deln. Denn wor­über man nichts Begrün­de­tes sagen kann, kann man allen­falls spe­ku­lie­ren. Sich seines Denk­ver­mö­gens zu bedie­nen, heißt des­halb für mich, nichts zu »glau­ben«, was dem Ver­stand und wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis ein­deu­tig wider­spricht. Ich bin höchst skep­tisch allem gegen­über, was für sich Gül­tig­keit, ja Wahr­heit bean­sprucht, ohne dafür wenigs­tens plau­si­ble Gründe ange­ben zu können. Den­noch ist nicht zu bestrei­ten, dass Wis­sen­schaft heute noch vieles nicht erklä­ren kann, und dass unser Wissen viel­leicht nie­mals voll­stän­dig sein wird.

Zwei­tens: Ein säku­la­res Wer­te­sys­tem kennt statt einer gött­lich gestif­te­ten Moral eine ver­nunft­ba­sierte Ethik. Die Jahr­tau­sende alte Regel »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« stellt eigent­lich schon ein umfas­sen­des Gebot fried­li­chen Zusam­men­le­bens dar. Es gilt vor allem, des­we­gen Gutes zu tun, weil es gut ist, nicht weil eine Gott­heit ganz hoch oben Beloh­nung ver­spricht. Ein säku­la­res Wer­te­sys­tem ori­en­tiert seine Normen und Regeln an den fun­da­men­ta­len Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Men­schen. Der Mensch setzt also die Norm, nicht eine unsicht­bare Gott­heit über uns. Dieses säku­lare Wer­te­sys­tem hat evo­lu­tio­när ent­stan­dene Wur­zeln und arti­ku­liert sich heute in huma­nis­ti­schen Grund­sät­zen und all­ge­mein aner­kann­ten Men­schen­rech­ten wie Selbst­be­stim­mung, Gleich­be­rech­ti­gung, Soli­da­ri­tät, soziale Gerech­tig­keit, wohl­über­legte Tole­ranz, zum Bei­spiel gegen­über einem privat geleb­ten Glau­ben. Im Zen­trum meines huma­nis­ti­schen Kon­zepts steht jeden­falls die Aus­sage, die in den Ohren gott­gläu­bi­ger Men­schen wie eine Pro­vo­ka­tion klin­gen mag, dass letzt­lich Men­schen ver­ein­ba­ren und fest­le­gen, was gut oder schlecht, was erstre­bens­wert oder abzu­leh­nen sei. Da Men­schen natur­ge­mäß unter­schied­li­che Bedürf­nisse und Inter­es­sen haben, sollte das Prin­zip des fairen Inter­es­sen­aus­gleichs gelten. Das bedeu­tet, dass man sich um der Gerech­tig­keit und des sozia­len Frie­dens willen immer zu fragen hat: Was ist glei­cher­ma­ßen gut und akzep­ta­bel für alle Betroffenen.

Und drit­tens: Meine strikte Dies­seits­ori­en­tie­rung basiert auf der Ein­sicht, dass ich höchst­wahr­schein­lich nur dieses eine Leben habe. Folg­lich sollte ich ver­su­chen, das Best­mög­li­che aus meinem Leben zu machen. Dieses Stre­ben nach Erfül­lung meines Lebens muss aber immer auch den Mit­men­schen im Blick haben, der ebenso glück­lich werden will. Des­halb gelingt ein erfüll­tes Leben ver­mut­lich am besten dadurch, dass man sich gesell­schaft­lich enga­giert, sei es im poli­ti­schen, im huma­ni­tä­ren, viel­leicht im künst­le­ri­schen Bereich. Und schließ­lich: Wer sich bemüht hat und wem es gelun­gen ist, auf ein erfüll­tes, glück­li­ches Leben zurück­bli­cken zu können, dem wird es leich­ter fallen, von dieser Lebens­bühne wieder abzutreten.

Aber es gibt noch einen Punkt, den ich hier anspre­chen will. Einer natu­ra­lis­ti­schen Welt­an­schau­ung wird gern »emo­tio­nale Armut« vor­ge­wor­fen, eine »redu­zierte Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung« oder »Blind­heit gegen­über den see­li­schen Bedürf­nis­sen eines Men­schen, der sich in exis­ten­zi­el­ler Not befin­det«. Diese Vor­würfe sind nicht ganz unbe­rech­tigt. Wer Reli­gio­nen ableh­nend gegen­über­steht, auch die Idee eines Jen­seits ver­wirft, meidet eher das Nach­den­ken über Themen, die den Alltag »tran­szen­die­ren«, Fragen, die sozu­sa­gen die »letz­ten Dinge« betref­fen. Denn Nicht­gläu­bige haben die Sorge, wie gehabt, wieder in irra­tio­na­les oder eso­te­ri­sches Fahr­was­ser zu geraten.

Den­noch befas­sen sich auch Nicht­gläu­bige mit Fragen, die jen­seits der ratio­na­len Bewäl­ti­gung des All­tags liegen. Auch Nicht­gläu­bige denken – wie erwähnt – über den Urgrund allen Seins nach, über die Unbe­greif­lich­keit der Rea­li­tät, kennen Gefühle des Eins­sein mit der Natur, beden­ken das eigene Ende. Solche Themen spre­chen – wie man sagen könnte – eine spi­ri­tu­elle Dimen­sion an. Das Thema Spi­ri­tua­li­tät wird von vielen Nicht­gläu­bi­gen inzwi­schen, wenn auch mit großer Zurück­hal­tung, als eine den Blick auf das Dasein erwei­ternde, wenn nicht berei­chernde Dimen­sion wahr­ge­nom­men. Dies umso mehr, je weni­ger solche Vor­stel­lun­gen und Gedan­ken heu­ti­ger Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft widersprechen.

Bei dem Gedan­ken an die End­lich­keit der eige­nen Exis­tenz aller­dings bietet die Ver­hei­ßung auf ein Wei­ter­le­ben im Jen­seits einem Nicht­gläu­bi­gen keinen Trost. Zu offen­kun­dig ist dieses reli­giöse Ver­spre­chen für ihn bloßes Wunsch­den­ken. Ein Huma­nist im oben beschrie­be­nen Sinne wird ohne das Ver­spre­chen eines ewigen Lebens daher mehr Mut und Kraft auf­brin­gen müssen. Dies wird ihm leich­ter gelin­gen, wenn er mit Ein­sicht und Gelas­sen­heit akzep­tiert hat, dass die Natur uns Men­schen nur einen ein­ma­li­gen und flüch­ti­gen Auf­tritt auf diesem Pla­ne­ten gewährt. 9

Der Christ wie­derum wird auf das ihm ver­spro­chene ewige Leben ver­wei­sen und darin am Lebens­ende seinen Trost finden, jeden­falls ist dieses Ver­spre­chen essen­zi­el­ler Teil seines Glau­bens­be­kennt­nis­ses. Ich kann jedoch diese Ver­hei­ßung nur als Illu­sion anse­hen, gebo­ren aus dem bren­nen­den Wunsch nach Wei­ter­le­ben. Denn ist es wirk­lich so, dass ein Christ am Ende seines Lebens tat­säch­lich Trost im Glau­ben findet? Die Ange­hö­ri­gen sind zutiefst erschüt­tert, viele hadern mit Gott und zwei­feln an dessen Güte. Warum diese unend­li­che Trauer, wenn doch bei christ­li­cher Lebens­füh­rung das Para­dies winkt? Zumin­dest ein alter, aber got­tes­fürch­ti­ger Mensch müsste bei seinem Able­ben eigent­lich von seinen Ver­wand­ten und Freun­den benei­det werden. Geht er doch Gott ent­ge­gen. Warum diese tiefe Trauer?

Mein Denken ist des­halb ein ande­res. Ein Mensch, der schon als Kind behut­sam zu der Ein­sicht geführt wird, dass der Tod zum Leben gehört, dass der Tod das natür­li­che Ende eines Lebens ist, dass es wohl keinen güti­gen Gott über ihm gibt, dass er aber auch nicht vor den Zufäl­lig­kei­ten des Lebens geschützt ist, wie Krank­hei­ten oder Unfäl­len etwa. Ein Mensch, dem früh­zei­tig bewusst wird, dass er nur dieses eine Leben hat und dass er den Sinn seines Lebens nur hier auf Erden finden kann, wird ein ande­res Leben führen als ein Christ. Er wird sich bemü­hen, viel kon­se­quen­ter sein Leben so zu gestal­ten, dass er posi­tive Spuren hin­ter­lässt: Kinder und Enkel, ein Haus oder etwa ein berühm­tes Bau­werk, eine das Leben erleich­ternde Erfin­dung, eine poli­ti­sche Leis­tung, die vielen Men­schen Frie­den und Wohl­stand brachte – irgend­eine per­sön­li­che Leis­tung, auf die er mit Genug­tu­ung oder gar Stolz schauen kann. Wenn ihm so etwas gelun­gen ist und er viel­leicht dank Medi­zin ein langes Leben hatte, kann er ruhig und gefasst von dieser Lebens­bühne abtre­ten. Viele glau­bens­freie Men­schen haben an ihrem Lebens­ende gezeigt, welche Stärke und Gelas­sen­heit sie aus einer so gereif­ten Ein­stel­lung zum Leben und dessen Ende bezie­hen, wel­cher innere Friede sie erfasst hat, wenn sie – ja, so möchte ich es for­mu­lie­ren – keine fal­sche Hoff­nung mehr hegen. Ich denke, »wer sein Feld bestellt hat«, wird am Ende auch los­las­sen können, ohne Ver­zweif­lung und ohne Angst vor dem Tod.

Was aber sage ich einem noch jungen Men­schen, dem eine tücki­sche Krank­heit das Leben nimmt? Es fällt mir schwer, hier­auf eine trös­tende Ant­wort zu finden. Aber was kann ein gläu­bi­ger Christ dazu sagen? Über­zeugt und trös­tet sein Hin­weis auf Auf­er­ste­hung und ewiges Leben einen Men­schen von heute noch? Das gern ver­drängte, unheil­schwan­gere Wort vom Schick­sal erin­nert daran, dass wir eben nicht alles in der Hand haben. Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie, auch die Evo­lu­ti­ons­theo­rie, bezeich­nen diese prin­zi­pi­elle Offen­heit der Zukunft, dieses nicht plan- und vor­her­seh­bare Gesche­hen und die damit ver­bun­dene Unge­wiss­heit mit dem abs­trak­ten Begriff Kon­tin­genz. Diese hat mit Zufall und Unbe­re­chen­bar­keit zu tun. Die Theo­lo­gen ver­wei­sen hier auf Gottes uner­forsch­li­chen Willen und trös­ten mit Ver­hei­ßun­gen und ver­wei­sen auf das Para­dies. Die Natur­wis­sen­schaf­ten und die aus ihr her­vor­ge­gan­ge­nen Tech­no­lo­gien bieten inso­fern Trost und Hoff­nung, als sie inzwi­schen wesent­li­che, Not wen­dende Bei­träge zur Bekämp­fung von Hunger, von Schmer­zen, von Krank­hei­ten und zur Bän­di­gung von Natur­ka­ta­stro­phen vor­wei­sen können und zukünf­tig wohl auch für der­zeit noch nicht beherrsch­ba­res Leid. Dort, wo die Reli­gio­nen noch die Lebens­ver­hält­nisse bestim­men, lebt die weit über­wie­gende Zahl der Men­schen hin­sicht­lich ihrer Lebens­qua­li­tät noch im Mittelalter. …