Warum ich nicht glauben kann – Folge 5: Motive trotz fehlenden Glaubens in der Kirche zu bleiben

     

Es geht hier um Men­schen, die in der Kirche geblie­ben sind, obwohl sie eigent­lich nicht mehr gläu­big sind. Es ist nicht unin­ter­es­sant, sich zu fragen, warum sie den­noch in der Kirche als Mit­glied bleiben.

Vorweg ein kurzer Blick auf die Ver­tei­lung der Welt­an­schau­un­gen in Deutsch­land und einige Daten aus Erhe­bun­gen zur Lage zum Bei­spiel der Evan­ge­li­schen Kir­chen in Deutschland.

Folie 12:

Wir sehen anhand von Folie 12, dass die Kon­fes­si­ons­freien mit 38 % inzwi­schen den größ­ten Block unter den ver­schie­de­nen Welt­an­schau­un­gen dar­stel­len. Die Katho­li­ken stel­len 28 %, die Evan­ge­li­schen 25 %, die kon­fes­si­ons­ge­bun­de­nen Mus­lime 5 % und die sons­ti­gen Gemein­schaf­ten zusam­men 4 %.

Schaut man sich aller­dings die großen Städte an, dann sieht es dort noch deut­lich anders aus. So sind in Berlin z.B. nur noch etwa 25 Pro­zent der Bürger Mit­glied in einer der beiden großen Kir­chen. Den aller­größ­ten Teil bilden in Berlin die Kon­fes­si­ons­freien mit der­zeit über 60 Pro­zent. In den neuen Bun­des­län­dern liegen die Werte oft bei bis zu 80 Pro­zent Nichtchristen.

Fasst man die beiden christ­li­chen Reli­gio­nen zusam­men, dann bilden diese den­noch immer noch den größ­ten Block. Aber genau da lohnt es sich, mal genauer hin­zu­schauen, was Chris­ten wirk­lich denken.

Das tut die Evan­ge­li­sche Kirche alle 10 Jahre und macht eine sehr gründ­li­che Erhe­bung zur Lage ihrer Kirche in Deutsch­land. Die beiden letz­ten Umfra­gen fanden 2003 und 2013 statt. Die Ergeb­nisse werden – Respekt! – mit großer Ehr­lich­keit ver­öf­fent­licht (siehe Folie 13!)

Folie 13:

Auf einen Punkt möchte ich noch einmal ver­wei­sen: Christ­sein wird vor allem unter ethi­schen Aspek­ten defi­niert. Näm­lich als Bemü­hen um ein anstän­di­ges und sitt­lich ein­wand­freies Leben. Es ist dies ein ganz wich­ti­ges Ergeb­nis dieser Umfrage, auf das ich in Folge 7 noch einmal zurück­kom­men werde.

Etwa 50% blei­ben Mit­glied, weil sie nicht auf die kirch­li­che Trau­ung und Beer­di­gung ver­zich­ten wollen (vgl. Folie 13!)

Dass man auf kirch­li­che Trau­ung und Beer­di­gung nicht ver­zich­ten wolle, ist ver­ständ­lich. Denn die säku­lare Szene – vor allem in den Dör­fern und klei­nen Städ­ten – bietet für solche Anlässe oft noch nicht den ästhe­ti­schen Rahmen, den die Kir­chen über die Jahr­hun­derte ent­wi­ckelt haben, sowohl von den Räum­lich­kei­ten wie vom Ablauf mit Pre­digt und Musik.

Ich komme damit zu wei­te­ren Moti­ven, wes­halb man in der Kirche bleibt, obwohl man nicht mehr glaubt oder glau­ben kann. Siehe zwecks Über­sicht Folie 11!

Angst vor gött­li­chem Zorn und Ver­damm­nis bei Abwen­dung vom Glau­ben, falls Gott doch existiert 

Ein Motiv, Kir­chen­mit­glied zu blei­ben, liegt schlicht in der Sorge, mit einem Aus­tritt aus der Kirche mög­li­cher­weise eine fatal fal­sche Ent­schei­dung für das eigene See­len­heil zu tref­fen. Man sagt sich, »schließ­lich könnte ja doch was Wahres dran sein« und »was Mil­lio­nen Men­schen glau­ben, kann doch nicht falsch sein«. Man bleibt also vor­sichts­hal­ber in der Kirche.

Anpas­sung und Mit­läu­fer­tum auf­grund gesell­schaft­li­chen und beruf­li­chen Drucks ohne tat­säch­li­che eigene Überzeugung

Man kennt das von Freun­den und Bekann­ten: Der kleine Hand­wer­ker im Dorf, der vom Wohl­wol­len seiner Kunden abhängt, kann es sich gar nicht erlau­ben, aus der Kirche aus­zu­tre­ten. Das würde ein­fach seinem Geschäft schaden.

Oder der Ehe­mann, der eigent­lich nicht mehr gläu­big ist, wagt es nicht seiner Frau oder den Schwie­ger­el­tern gegen­über, sich zu seiner Ungläu­big­keit zu beken­nen. Er fürch­tet ein­fach die Aus­ein­an­der­set­zung. Also bleibt er in der Kirche – ent­ge­gen seiner eigent­li­chen Auffassung.

Kirch­li­ches Arbeits­recht: Zwangs­mit­glied­schaft, wenn Anstel­lung bei Dia­ko­nie oder Caritas 

Gera­dezu ver­fas­sungs­wid­rig ist das kirch­li­che Arbeits­recht, das sogar über dem staat­li­chen       Arbeits­recht steht. Danach muss ein Arbeit­neh­mer in einem der vielen kirch­li­chen Unter­neh­men von Dia­ko­nie und Cari­tas Mit­glied der Kirche sein und sich deren Glau­bens­re­geln unter­wer­fen, sonst bekommt er in der Regel dort keine Anstellung.

Dia­ko­nie und Cari­tas betrei­ben bekannt­lich die kon­fes­sio­nel­len Kran­ken­häu­ser, Pfle­ge­heime oder kon­fes­sio­nelle Kin­der­ta­ges­stät­ten. Mit übri­gens ins­ge­samt etwa 1,3 Mil­lio­nen Arbeits­plät­zen. Dabei geht es nur um die sozia­len Ein­rich­tun­gen, nicht z.B. um die kir­chen­ei­ge­nen Verwaltungen.

Und nun kommt der eigent­li­che Skan­dal: Diese Ein­rich­tun­gen wie Kran­ken­häu­ser, Pfle­ge­heime etc. werden zu fast 100 Pro­zent vom Staat und den Sozi­al­kas­sen finan­ziert, also von allen Bür­gern – ob kon­fes­sio­nell gebun­den oder nicht. Von daher ist es schlicht sit­ten­wid­rig, die Mit­ar­beit in einer dieser sozia­len Ein­rich­tun­gen von der Mit­glied­schaft in der Kirche abhän­gig zu machen.

Und man sollte sich den Arti­kel 3, Absatz 3 unse­res Grund­ge­set­zes noch einmal anschauen. Da heißt es wört­lich: »Nie­mand darf wegen seines Glau­bens oder seiner reli­giö­sen Anschau­un­gen benach­tei­ligt oder bevor­zugt werden.«

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ist der Kirche hier sei­ner­zeit mit einer Aus­nah­me­re­ge­lung ent­ge­gen­ge­kom­men ist. Ich halte das für ein Gefäl­lig­keits­ur­teil eines Gerichts, das viel­fäl­tige, zum Teil ver­deckte Bezie­hun­gen zur Kirche pflegt. Kir­chen­ver­tre­ter und Rich­ter des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts trafen sich jah­re­lang regel­mä­ßig im »Arbeits­kreis Foyer Kirche und Recht«. Die »Arbeits­ge­sprä­che« fanden nicht öffent­lich statt. Nach Bekannt­wer­den dieser Gesprä­che wurde der  Arbeits­kreis ein­ge­stellt, die Kon­takte blie­ben. Keiner der höchs­ten Rich­ter ist kon­fes­si­ons­frei, obwohl ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung nicht in der Kirche ist. Man nehme auch zur Kennt­nis: Acht der Bun­des­ver­fas­sungs­rich­ter haben höchste katho­li­sche Orden für »Ver­dienste um die katho­li­sche Kirche« erhal­ten. Kann man da noch von Neu­tra­li­tät des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts sprechen?

Dieses kirch­li­che Arbeits­recht zwingt Arbeit­neh­mer, z.B. Ärzte, Kran­ken­schwes­tern, Psy­cho­the­ra­peu­ten oder Erzie­her in die Kirche ein­zu­tre­ten und sich zu einem christ­li­chen Lebens­wan­del zu beken­nen (z.B. sich als Katho­lik nicht schei­den zu lassen oder kein Kind unehe­lich zur Welt zu brin­gen), weil sie sonst keine Chance auf Ein­stel­lung haben bzw. ent­las­sen werden, wenn solche »Ver­stöße« bekannt werden. Hinzu kommt, dass in vielen Regio­nen Deutsch­lands die kon­fes­sio­nel­len Kran­ken­häu­ser, Pfle­ge­heime, Kin­der­ta­ges­stät­ten inzwi­schen eine quasi Mono­pol­stel­lung haben. Es gibt Städte, die haben nur noch kon­fes­sio­nelle Ein­rich­tun­gen dieser Art. Wo kann da ein nicht­re­li­giö­ser Arzt, eine Kran­ken­schwes­ter oder ein Erzie­her noch eine Anstel­lung finden? Dabei werden – ich wie­der­hole es – diese Ein­rich­tun­gen zu fast 100 Pro­zent von der All­ge­mein­heit finanziert.

Die Kirche, vor allem die katho­li­sche Kirche, benutzt also das kirch­li­che Arbeits­recht als Erpres­sungs­mit­tel, Men­schen in die Kir­chen­mit­glied­schaft zu zwin­gen. Man ist also zwangs­weise in der Kirche, ohne gläu­big zu sein.

Das ist skan­da­lös, schä­big und unchrist­lich. Zwar haben inzwi­schen Urteile des Euro­päi­schen Gerichts­hofs das deut­sche kirch­li­che Arbeits­recht mit dem euro­päi­schen Arbeits­recht als prin­zi­pi­ell unver­ein­bar erkannt und in eini­gen Fällen Mit­ar­bei­tern, die gegen die Kirche klag­ten, Recht gege­ben. Die Kir­chen tun sich aber sehr schwer, sich von ihren jahr­hun­der­te­al­ten Pri­vi­le­gien zu lösen. Offi­zi­ell ist das kirch­li­che Arbeits­recht immer noch gültig, auch wenn län­ger­fris­tig dessen Ablö­sung unver­meid­lich sein wird. Was als Hypo­thek in jedem Fall zurück­bleibt, ist, dass über Jahr­zehnte Aber­tau­sende Ärzte, Kran­ken­schwes­tern, Psy­cho­the­ra­peu­ten oder Erzie­her ver­fas­sungs­wid­rig um ihr Recht gebracht wurden, unab­hän­gig von ihrer welt­an­schau­li­chen Auf­fas­sung in Betrie­ben ihrer Wahl zu arbeiten.

Kul­tu­rel­les oder sozia­les Enga­ge­ment im Rahmen der Kirche trotz Glaubensverlust

In kirch­lich-sozia­len Ein­rich­tun­gen findet oft eine ehren­amt­li­che Mit­wir­kung statt ohne jeden aus­drück­li­chen Bezug auf eine christ­li­che Posi­tion. Viel­fach sind es all­ge­mein huma­ni­täre Beweg­gründe, die sol­chem kirch­lich-sozia­len Enga­ge­ment zugrunde liegen. Ein per­sön­li­ches Bekennt­nis zu Kirche und christ­li­chem Glau­ben stellt eine solche Mit­ar­beit kei­nes­falls immer dar.

Aktu­el­les Bei­spiel hier­für ist die Betreu­ung von Flücht­lin­gen, die oft von der Kirche orga­ni­siert wird.

Dass man sein sozia­les Enga­ge­ment oft in der Kirche ein­bringt, hängt damit zusam­men, dass in den klei­ne­ren Orten die Kirche oft die ein­zige Insti­tu­tion ist, die über die erfor­der­li­chen Räum­lich­kei­ten, über Per­so­nal und Orga­ni­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten verfügt.

Und ein letz­tes Motiv soll noch erwähnt werden:

Die Kirche als bloßer Ort der Gemein­schaft und sozia­len Kontakte: 

Die meis­ten Men­schen haben das Bedürf­nis nach Gemein­schaft und sozia­ler Nähe. Beson­ders in klei­ne­ren Städ­ten und Dör­fern ist die Kirche oft der ein­zige Ort, der diesem mensch­li­chen Grund­be­dürf­nis entgegenkommt.

Das kann der Kir­chen­chor sein oder der vom Pfar­rer gelei­tete Senio­ren­club oder zum Bei­spiel die kirch­lich initi­ierte Wan­der­gruppe, wo man Freunde trifft oder Freund­schaf­ten entwickelt.

Diese Ein­bin­dung in eine Gemein­schaft ist vielen Men­schen, beson­ders älte­ren, die keine beruf-lichen Bezie­hun­gen mehr haben, sehr wich­tig. Es ist nicht unbe­dingt die Reli­gion, die hier zusam­men­führt und ver­bin­det, es sind oft die gemein­sa­men Akti­vi­tä­ten und Freund­schaf­ten, die ledig­lich über den Ort der Kirche zustande kommen.

Es kann aber auch die beein­dru­ckende und sym­pa­thi­sche Per­sön­lich­keit des Pfar­rers oder der Pfar­re­rin sein, deren Nähe man sucht. Es ist also nicht immer der Glaube, der in diesem Fall an die Kirche bindet, son­dern das Bedürf­nis nach Gemein­schaft und Sozialkontakten.

Was will ich mit dieser, sicher nicht voll­stän­di­gen Auf­zäh­lung von Beweg­grün­den, in der Kirche zu blei­ben, obwohl man nicht mehr gläu­big ist, sagen?

Nun, dass sich unter diesen Men­schen wei­tere poten­ti­elle Absprung-Kan­di­da­ten befin­den, die bei Gele­gen­heit die Kirche ver­las­sen könn­ten. Nach außen aber stär­ken diese Men­schen den Ein­druck, dass die Kir­chen großen Zulauf hätten.

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